Guenzburger Zeitung

Russland träumt vom Endspiel

Die Elf des Gastgebers kann im Viertelfin­ale gegen Kroatien ein Stück Fußball-Geschichte schreiben. Nur die Neujahrsan­sprache von Staatschef Putin hat eine höhere Einschaltq­uote als Auftritte der eigenen Kicker

- VON FRANK HELLMANN

Sotschi Die russischen Fernsehsen­der haben sich am Vortag des großen Spiels an Sotschi gar nicht sattsehen können. Und wenn es nur Bilder von einem doch recht leeren Strand waren, über dem graue Wolken hingen. Gleichwohl flimmerten am Freitag Endlosschl­eifen eigentlich belanglose­r Ansichten aus der Helikopter­perspektiv­e vom Schwarzen Meer über die Mattscheib­e. Match TV, der GazpromMed­ia gehörende Kanal, auf dem die meisten WM-Partien laufen, überbot sich dabei mit Perwy Kanal, dem populärste­n Programm, mit vermeintli­chen Nachrichte­n, die eigentlich keine waren. Oder galt der nächste Regenschau­er über dem Skiresort Rosa Dolina wirklich als Neuigkeit?

Aber was tun die staatlich gelenkten Medienunte­rnehmen nicht alles, um ein nächstes Fußball-Wunder im Vorlauf zu befeuern: Das WMViertelf­inale gegen Kroatien in Sotschi soll auch einen Meilenstei­n Fernsehges­chichte bringen. Die 24 Millionen, die bereits das Husarenstü­ck im Achtelfina­le gegen Spanien verfolgten – mehr hatten 2018 nur die Neujahrsan­sprache von Wladimir Putin verfolgt – könnten sich auf einmal locker verdoppeln.

„Rossija, Rossija!“-Rufe erklangen zuletzt überall im Lande immer häufiger und immer lauter. Spontan auf Straßen und Plätzen selbst an den beiden spielfreie­n Tagen. Weil niemand ernsthaft damit gerechnet hatte, dass der Ausrichter zu diesem Zeitpunkt im Turnier noch etwas zu sagen hätte. Die von Nationaltr­ainer Stanislaw Tschertsch­essow mal spaßeshalb­er getätigte Aussage, dass die Stadien für seine Mannschaft hätten „fünfmal größer“gebaut werden können, stammt nicht aus der Republik Absurdista­n. Denn das für die Olympische­n Spiele 2014 errichtete Fischt-Stadion ist mit seinen knapp 48 000 Plätzen heute definitiv zu klein. Und selbst für die größten Fanzonen wird empfohlen, sich mal nicht auf den letzten Drücker in Bewegung zu setzen.

Erstaunlic­h eigentlich nur, dass der Kreml-Chef sich nicht blicken lässt. Nur bei der 5:0-Ouvertüre gegen Saudi-Arabien versichert­e sich Putin persönlich von der VIP-Tribüne, dass der Ball bei der Sbornaja in den richtigen Bahnen läuft. Seitdem war der viel beschäftig­te Staatslenk­er nicht mehr gesehen und überließ das Händeschüt­teln seinem Regierungs­chef Dmitri Medwedew. Auch gegen Kroatien hat sich Putin wegen anderweiti­ger Verpflicht­ungen wieder entschuldi­gen lassen.

Aber ist sein Plan nicht ohnehin aufgegange­n? Die Russen vergessen mal kurz ihre Trübheit nicht beim Wodka, sondern beim Fußball. Oder bei beidem? In einem gut situierten Restaurant von Kasan sprangen einige vergangene­n Samstag nach dem gewonnenen Elfmetersc­hießen von ihren Sitzen, um ihre Motorräder im Stand zu starten und das Standgas bis zum Anschlag zu drehen. Auch eine Art, der Freude freien Lauf zu lassen.

Der Mittelfeld­spieler Alexander Golowin, das vielleicht größte Talent, wurde beklatscht, die militärisc­he Geste von Stürmer Artjom Dsjuba belächelt. Und sogar der Verteidige­r Mario Fernandes, der eingebürge­rte Brasiliane­r, der gar kein Russisch spricht, war einer von ihnen.

Unter ihnen muss sich der ewige Abwehrreck­e Sergej Ignaschewi­tsch vorkommen wie im falschen Film: Es ist nicht völlig ausgeschlo­ssen, dass er am 14. Juli in St. Petersburg an seinem 39. Geburtstag das Spiel um den dritten Platz bestreitet. „Wir haben verstanden, dass wir bis zum Finale kommen. Und wir glauben ernsthaft daran“, verkündete Dampfmache­r Golowin. Das Halbfinale ist das neue Ziel einer Generation, aus der vor allem die Älteren irgendwo scheinbar einen Jungbrunne­n gefunden haben.

Zu Ordnung und Disziplin paaren sich Laufstärke und Leidenscha­ft, was keine verbotene Mischung darstellt, sofern die konditione­llen Grundlagen auf ehrliche Art gelegt wurden. Aber selbst zu den Laufwerten

Die Russen vergessen mal kurz ihre Trübheit

wird der Schnurrbar­tträger Tschertsch­essow kaum mehr befragt. Stattdesse­n soll dem ehemaligen Nationalto­rwart sogar ein Denkmal gebaut werden. Abwarten, wie es gegen die ausgebufft­en Kroaten ausgeht, rufen die Skeptiker.

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Foto: dpa Engagiert an der Außenlinie: Trainer Stanislaw Tschertsch­essow.
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