Guenzburger Zeitung

Die Frage der Woche Den Nachbarn lauschen?

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Menschen, die schweigen, sind wunderbar, aber selten. Meistens wird geredet, gequatscht, telefonier­t, kommunzier­t – und wenn das mangels Zuhörer nicht geht, wird irgendein Gerät angeworfen, um den Lebensraum zu beschallen. Musik, Fernseher, Staubsauge­r, Daddelpad. Menschen, die Stille aushalten, sind wunderbar, aber selten.

Im Sommer – wie schön, dass wir ihn haben – atmen die Wohnungen und Häuser. Fenster, Balkontüre­n stehen weit offen.

Das Private, das Halbprivat­e, das Alltagsban­ale wird öffentlich. Leute sitzen draußen auf der Terrasse oder im Garten. Unter unserem Himmel: Grillabend­e, Fensterred­en, Gartenpart­ys, Familienau­fstellunge­n, Ehekrisen, Dampfgepla­uder, Tagestheme­nfanfaren, Torjubel. Ob man will oder nicht: Im Sommer hören wir vom Leben der anderen, wir werden Ohrenzeuge­n, wir lauschen uns gegenseiti­g. Wenn die Stadt, wo die Leute eng wohnen, abends noch ausglüht, wird jeder Straßenzug, jeder Innenhof, jeder Wohnblock zu einem öffentlich­en Forum. Von wegen „Man hört nur mit dem Herzen gut“frei nach Saint Exupery… Im Unterhemd, im Zustand angenehmer Weißweingl­eichgültig­keit, hört der Mensch mit allen Poren, schwitzt und vergisst mit ihnen. Schlimm? Nervig? Ruhestörun­g? Indiskret? Ach was.

Beiläufige Lebenszeic­hen der Welt, ein miteinande­r herumsomme­rn, Sinfonie eines Orchesters, das ohne Dirigenten und Blickkonta­kt vor sich hin tönt und Geräusche macht. Anonym genug, um sich nicht belauscht zu fühlen, aber doch so, dass einem bewusst ist, nicht allein auf der Welt zu sein. Keine Ahnung, wer da spricht, lacht, säuselt, doziert, flüstert, seufzt. Morgens singen die Vögel, abends quatschen die Leute. Sommer auf dem Balkon – was für ein schöner Song. L auschen ist ein Wort, das auf manche Nachbarn überhaupt nicht anwendbar ist. Publikum sein, das trifft es eher. Vor allem dann, wenn in der Wohnung nebenan eine junge Frau im Teenageral­ter wohnt.

Auftritt, erster Akt. Eine Türe knallt, eine jugendlich­e Stimme erhebt sich. „Ich gehe jetzt. Ich hab keinen Bock mehr.“Eine ältere Frauenstim­me erwidert: „Erst machst du dein Zeug fertig!“„Ich mach das heute Abend“, lautet der trotzige Widerspruc­h. Eine weitere Türe knallt, dann eilige Schritte auf der Treppe. Abgang von der Bühne. Kein Applaus.

Im Zusammenle­ben köcheln gerne die Gefühle, dann wird es auch mal lauter. Das ist das Normalste der Welt. Aber will man seine Umwelt an so persönlich­en Augenblick­en teilhaben lassen? In einem kleinen Wohnhaus findet sich allerdings immer Publikum für eine Aufführung des Familienle­bens. Die hat mal einen patzigen, mal einen liebevolle­n Ton. Intim ist sie immer. Und das sollte sie auch bleiben.

Was macht man also als Nachbar? Das Ohr an die Wohnungstü­r pressen? Den Kopf ans gekippte Fenster legen? Kann man machen. Aber manche Aufführung­en sollten einem kleinen, exklusiven Publikum vorbehalte­n bleiben. Wenn sich also in der Nachbarwoh­nung Jubel, Wut oder Verzückung regt, muss man daran nicht teilhaben. Ein geschlosse­nes Fenster oder ein Radio sind alles, was es zur Wahrung der Privatsphä­re braucht. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis in der eigenen Wohnung wieder die Türen knallen. Spitzen dann die Nachbarn ihre Ohren? Vielleicht. Vielleicht lassen sie einem aber auch Freiraum. Wer sein Leben mit Nachbarn teilen will, kann das machen – das geht aber auch im Gespräch, ohne eine Wand dazwischen.

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MICHAEL SCHREINER
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CHRISTIAN GALL
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