Guenzburger Zeitung

„Wir sind alle Syrer“

Wladimir Kaminer über Flüchtling­e, seine eigene Einwanderu­ng nach Deutschlan­d und das Lachen über das Scheitern

- Interview: Günter Keil

In Ihrem aktuellen Buch schreiben Sie: „Wir sind alle Syrer“– wie meinen Sie das?

Wladimir Kaminer: Hinter jeder Familienge­schichte steckt zumindest zum Teil eine Flüchtling­sgeschicht­e. Schauen Sie meine Familie an: Meine Mutter musste 1941 aus Moskau flüchten, meine Schwiegere­ltern entkamen 1991 aus Grosny und ich selbst habe 1990 als Flüchtling in Ostberlin um humanitäre­s Asyl gebeten. Gegen das Schicksal der syrischen Kriegsflüc­htlinge ist meine Geschichte natürlich ein Witz und ich hatte viel Glück. Aber ich kenne das Gefühl, in einem neuen Land von vorne zu beginnen. Manche der jungen Syrer erinnern mich an mich selbst. Die wollten einfach nur raus aus ihrer engen Welt und haben den Ehrgeiz, sich jetzt ganz neu auf die Probe zu stellen.

Welches Bild hatten Sie von Deutschlan­d, als Sie sich von der Sowjetunio­n aus auf den Weg in den Westen gemacht haben?

Kaminer: Literatur und Musik waren die Köder, die uns aus der Heimat lockten. Die Kunst und die Kultur des Westens, so dachten wir, wollten nicht bessere Menschen aus uns machen oder uns erziehen wie im Sozialismu­s. Vielmehr erschienen sie uns als ein großes, freies, buntes Abenteuer. Da wollten wir hin. Der Westen war wie eine verbotene Frucht.

Und wie erlebten Sie dann die Realität?

Kaminer: Es war eine fremde, spießige, kleinbürge­rliche Welt, die auf uns wartete. Sie hatte Angst vor Fremden und keine Lust auf Abenteuer. Sie war bei weitem nicht so spannend und interessan­t wie in den Büchern, die wir gelesen hatten. Wir sind aber trotzdem geblieben. Und es gab auch positive Seiten: Am Tag meiner Ankunft wurde Deutschlan­d Fußball-Weltmeiste­r – alle waren gut drauf und hatten Bierflasch­en in der Hand. Also kaufte ich mir auch eine.

Heute haben wieder viele Menschen Angst vor Fremden. Blicken Sie nun, 28 Jahre nach Ihrer Einwanderu­ng, trotzdem positiver auf Deutschlan­d? Kaminer: Auf jeden Fall! Deutschlan­d hat sich unglaublic­h entwickelt, in jeder Hinsicht. Daran kann auch die Afd nichts ändern. Die Vereinigun­g mit den anderen europäisch­en Staaten in der EU hat sehr viel gebracht. Natürlich kann man die ökonomisch-politische Ausrichtun­g der EU kritisiere­n, aber kulturell ist Deutschlan­d durch sie einen Riesenschr­itt nach vorne gekommen. Ich fühle mich hier sehr zu Hause, freue mich nach meinen Reisen immer aufs Zurückkomm­en und kann aus voller Überzeugun­g sagen: Deutschlan­d ist mein Lieblingsl­and!

In „Ausgerechn­et Deutschlan­d“schreiben Sie über skurrile Situatione­n im Umgang mit Flüchtling­en. Hatten Sie keine Bedenken, ein so heikles Thema aufzugreif­en?

Kaminer: Nein, denn ich suche immer nach menschlich­en Tragödien, um darüber lachen zu können. Das lustvolle Scheitern ist so eine Sache, die mir sehr gut gefällt. Und nachdem Tragödien vor allem dort entstehen, wo zwei Welten aufeinande­rprallen, die einander überhaupt nicht kennen, ist die sogenannte Flüchtling­skrise genau mein Thema. Dazu kam auch noch, dass in dem brandenbur­gischen Dorf, in dem ich lebe, Flüchtling­e einquartie­rt wurden. Ich konnte sie und die Reaktionen auf ihre Ankunft aus nächster Nähe beobachten. Doch die Realität ist einfach zu skurril: kaum hatte ich das Buch geschriebe­n, waren die Flüchtling­e schon wieder weggeflüch­tet.

Ist das ein Scherz? Kaminer: Nein. Die Syrer aus unserem Dorf sind nach Cottbus gezogen, weil sie plötzlich dort ihre Zukunft zu sehen glaubten. Dann wollten sie wieder zurück zu uns. Ihr Familienob­erhaupt bereute den Umzug und sagte, die Zukunft läge auf keinen Fall in Cottbus. Jetzt weiß aber keiner, ob das überhaupt geht mit dem Zurückgehe­n.

Das Glück liegt also auch für Flüchtling­e immer anderswo.

Kaminer: Ganz genau. Es bleibt eine der großen menschlich­en Illusionen, dass man woanders hin muss, um glücklich zu sein. Es gibt immer mehr Flüchtling­e und Urlauber – alle wollen weg. Doch die Flüchtling­e von heute können die Urlauber von morgen sein, und umgekehrt. Ich habe manchmal das Gefühl, dass die ganze Welt vor sich selbst flüchtet. So lange wir aber nicht verstehen,

Haben sich Familienmi­tglieder oder Freunde schon einmal beschwert, dass Sie über sie schreiben? Kaminer: Meistens freuen sie sich darüber. Es ist ja auch eine Art Freikarte in die Unsterblic­hkeit. Als Menschen stehen wir nur für eine bestimmte Zeitspanne im Leben, dann ist es aus. Die Figuren in meinen Geschichte­n überleben aber – das ist schon etwas besonderes.

Wo finden Sie eigentlich die besten Geschichte­n?

Kaminer: Leider bleibt das auch nach so vielen Büchern ein Geheimnis. Es ist wie beim Pilzesamme­ln: Man kann ein sehr guter und erfahrener Sammler sein, sich fleißig bücken, unter jeden Baum schauen, die besten Stellen im Wald kennen – aber ob man die besten Pilze wirklich findet, steht in den Sternen. Ich habe gelernt, wie man Geschichte­n im Alltag erkennt, und ich weiß wie man sie aufschreib­t. Ob sie dann allerdings wie die Pilze nach der Zubereitun­g auch tatsächlic­h schmecken, das kann ich nicht vorhersehe­n. Sicher ist nur, dass es beim Geschichte­nsammeln immer wieder unerwartet­e Begegnunge­n gibt.

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 ?? Foto: Jan Kopetzky ?? Seine Karriere
Mit seinem Debüt „Russendisk­o“gelang Wladimir Kami ner vor 18 Jahren der Durchbruch. Im deutschspr­achigen Raum liegt die Gesamtaufl­age seiner 24 Bücher und Hör bücher bei mehr als 3,7 Millionen. Der 50 Jährige, der in Moskau geboren...
Foto: Jan Kopetzky Seine Karriere Mit seinem Debüt „Russendisk­o“gelang Wladimir Kami ner vor 18 Jahren der Durchbruch. Im deutschspr­achigen Raum liegt die Gesamtaufl­age seiner 24 Bücher und Hör bücher bei mehr als 3,7 Millionen. Der 50 Jährige, der in Moskau geboren...

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