„Was wünscht der junge Herr?“fragt die Verkäuferin Die Frau in ihr
Als Jugendliche merkt Linde Reim, dass etwas anders ist. Sie wächst nicht mehr, ihr Körper entwickelt sich kaum weiter. Mit 15 Jahren bekommt sie die Diagnose: ein seltener Gendefekt. Eine Geschichte über dauerhafte Wechseljahre, verpasste Chancen und das
Diedorf/Ulm Linde Reim erinnert sich an eine Szene aus ihrer Jugend, die etwas sehr Bezeichnendes hat. Sie ist vielleicht 15 Jahre alt, als sie in einem Supermarkt in Augsburg steht. Und die Verkäuferin an der Wursttheke fragt: „Was wünscht der junge Herr?“Gut möglich, dass diese Frage völlig arglos gestellt wurde. Für ein Mädchen aber, das hofft, wie alle anderen Altersgenossinnen bald eine junge Frau zu werden, ist sie verheerend, entwürdigend, fatal, erschütternd.
Linde Reim spürt schon damals, dass alles irgendwie anders ist. Woran das liegt, weiß sie nicht. Aber warum sind alle anderen Mädchen größer als sie, die letztlich nur 1,49 Meter messen wird? Warum, wo doch die Eltern viel größer sind? Warum will ihr Busen nicht wachsen? Warum sprechen die Ärzte zu dieser Zeit von Infantilismus – wonach Linde Reim also auf der Stufe eines Kindes stehen geblieben ist? Und warum hat sie ständig Infektionen wie etwa eine Hirnhautentzündung?
Heute ist Linde Reim 60 Jahre alt. Körperlich aber wirkt sie deutlich älter. Ihre Stimme klingt verletzlich, brüchig. Die Haare sind schlohweiß. Im Gespräch bemerkt man allerdings sehr schnell den hellwachen, klugen und sensiblen Geist von Linde Reim. „Ich sollte eigentlich ein Junge werden“, beginnt sie zu erklären. „Von meinem Y-Chromosom brach aber offenbar ein Teil ab.“
Das klingt für den Unkundigen zunächst etwas kompliziert. Was man in der Regel aber schon einmal gehört hat: Frauen haben zwei X-Chromosomen (also XX), Männer ein X- und ein Y-Chromosom XY). Anders ist das bei den sogenannten Ullrich-Turner-Frauen. Sie haben entweder nur ein X-Chromosom (also X0). Oder aber, wie im Fall von Linde Reim: Das zweite Chromosom ist bruchstückhaft und damit unwirksam (im Ergebnis also ebenfalls X0). Eine kleine Erbgutveränderung, aber mit erheblichen Auswirkungen auf das ganze Leben. Denn durch diese Spielart der Gene, die etwa bei einem von 2500 Mädchen auftritt, fehlen dem Körper weibliche Hormone.
Nun könnte man ja sagen: Ist doch nicht so schlimm. Diesen Zustand erlebt jede Frau nach den Wechseljahren. Das stimmt aber so nicht. Denn der Mangel an weiblichen Hormonen – schon vor der Geburt – ist viel fataler.
Professor Martin Wagner ist Endokrinologe an der Uniklinik Ulm und ein Spezialist auf diesem Gebiet. Er sagt: „Dadurch, dass bei Frauen mit einem Ullrich-Turner-Syndrom ein Chromosom fehlt, fehlen auch für den Körper wichtige genetische Informationen.“Wagner spricht nicht von einer Erkrankung, sondern von einer zufälligen Chromosomen-Anomalie, die nicht vererbt wird. „Das Zustandsbild ist von Frau zu Frau unterschiedlich“, erklärt er. „Aber es gibt einige Symptome, die immer wieder auftauchen.“
Durch die fehlenden genetischen Informationen wird das Bindegewebe anders angelegt. Turner-Frauen haben darum oft erhebliche kardiologische Probleme. In vielen Fällen ist die Hauptschlagader des Körpers, die Aorta, geweitet. Platzt sie, verblutet man innerlich. Auch aus diesem Grund wurden TurnerFrauen früher oft nicht älter als 25 Jahre. Hinzu kommt: Sie sind im Schnitt 20 Zentimeter kleiner als andere Frauen. Die Strukturen im Bereich der Ohren sind verändert. Es bilden sich häufig Mittelohrentzündungen, die das Hörvermögen vermindern oder ganz beschädigen. Die sind zwar meist vorhanden, aber nicht ausreichend ausgebildet. „Die Eierstöcke entwickeln sich nicht und vernarben“, erklärt Wagner. In der Pubertät bleiben Brustwachstum und Schambehaarung meist aus. „Es ist äußerst selten, dass eine Frau mit einem Ullrich-Turner-Syndrom auf natürliche Weise Kinder bekommt.“Inzwischen aber sind durch künstliche Befruchtung mit einer Eizellspende Schwangerschaften möglich.
Von all diesen Dingen weiß Linde Reim als Teenager nichts. Sie erlebt nur die Symptome: Die Mittelohrvereiterung, bei der der HNO-Arzt einen Abfluss hinter den Ohren aufmeißeln muss. Die Tatsache, dass sie seit dem siebten Lebensjahr kaum mehr gewachsen ist. Die ausbleibende Pubertät. Während sich ihre Mitschülerinnen am Augsburger Maria-Stern-Gymnasium anschicken, junge Frauen zu werden, bleibt sie immer irgendwie kindlich.
Schließlich, mit 15 Jahren, kommt Linde Reim zu einer Untersuchung ins Krankenhaus. Sie wird in die Uniklinik nach München überwiesen. Dort, endlich, die Diagnose. „Ich war entsetzt. Und ich konnte das Entsetzen in den Gesichtern der Anwesenden wahrnehmen“, erinnert sie sich. Von ihrem 16. Lebensjahr an erhält sie weibliche Hormo(also ne – in Form der Antibabypille. Von da an geht es ihr etwas besser. Bis heute ist sie dankbar, dass sie diese Hormone bekommen hat. Denn sie sorgten dafür, dass Linde Reim überhaupt noch lebt.
Der Hormonmangel führt nicht nur zu kardiologischen Problemen. Turner-Frauen befinden sich dadurch auch schon in frühem Alter quasi in den Wechseljahren und damit in der Menopause. Linde Reim hat dafür einen erschütternden Vergleich gefunden: „Die Mädchen gingen früher ohne Hormone zugrunde – wie eine alte Frau.“Und: „Meine Generation ist die erste, die wesentlich älter wird als 25 Jahre.“
Doch mit den weiblichen Hormonen sind nicht alle Probleme aus der Welt. Für Linde Reim drängen sich als Jugendliche viele Fragen auf: Warum bin ausgerechnet ich anders? Und bin ich überhaupt anders, wo ich mich selbst doch als völlig normal erlebe? Bin ich nun eine Frau oder nicht? „Mein Leben bekam eine düstere Note, ich fühlte mich unfruchtbar“, sagt Linde Reim. „Als die Ärzte hörten, dass ich auf das Gymnasium gehe, rissen sie die Augen auf.“So überrascht waren sie, dass ein Mädchen mit dieser Chromosomen-Anomalie dafür klug genug ist.
Dabei weiß man heute, wie ProGeschlechtsorgane fessor Wagner sagt: „Bei Frauen mit Ullrich-Turner-Syndrom ist die Intelligenz nicht beeinträchtigt.“Zwar sei die räumliche Wahrnehmung oftmals eingeschränkt. „Aber dafür sind sie oft sprachlich überdurchschnittlich begabt.“
Das zeigt sich auch bei Linde Reim. Als Kind kann sie kaum einen Ball fangen. „Die Augen-Hand-Koordination ist bis heute nicht gut.“Dafür ist sie sprachbegabt. Sie macht Abitur, studiert Lehramt für Grundschule sowie Deutsch als Zweitsprache. An der Uni Istanbul lernt sie Türkisch. „Ich wollte raus, weg, etwas erleben.“Vier Jahre lebt sie in der Türkei, heiratet dort auch. Der Ehemann, ein Berufssoldat der türkischen Luftwaffe, weiß, dass sie keine Kinder bekommen kann. Gemeinsam ziehen sie nach Deutschland, wo Linde Reim als Grundschullehrerin arbeitet und türkische Kinder unterrichtet. Aber die Ehe zerbricht später.
Was bleibt, ist das Turner-Syndrom und seine Folgen. „Ich merkte, dass ich nicht so viel Kraft habe wie andere. Auch ist mir bis heute oft vieles zu schnell.“Sie hat nicht das Kontingent an Energie wie andere, gesunde Frauen. Zahlreiche Infektionen und eine heftige Nahrungsmittelunverträglichkeit erschweren ihr den Alltag, mit 45 Jahren geht sie in den Vorruhestand. Sie engagiert sich danach ehrenamtlich, lässt sich etwa zur Hospizhelferin ausbilden, ist in den Bergen unterwegs – „aber ich muss einfach trotzdem anders haushalten als andere“, sagt sie. Das Autofahren lässt sie sein, Internet und einen Fernseher hat sie bis heute nicht. „Ich muss sehr darauf achten, dass ich die Fülle der selbstverständlichen Reize und Eindrücke überhaupt verarbeiten kann“, erklärt sie. Mit 52 Jahren zieht sie in eine Senioreneinrichtung am Ortsrand von Diedorf bei Augsburg.
Während Linde Reim ihre Diagnose erst mit 15 Jahren bekommt, ist die Medizin heute viel weiter. „Kinderärzte erkennen das Turner-Syndrom oft schon im Babyalter“, sagt Professor Wagner. Typische Zeichen dafür können etwa Herzerkrankungen oder ein relativ kurzer Hals sein. Da aber verschiedene Ausprägungen des Syndroms auftreten, ist nicht grundsätzlich gewährleistet, dass es gleich identifiziert wird. Zugleich weiß man inzwischen, dass der größte Teil der Mädchen mit dieser ChromosomenAnomalie bereits als Embryo im Mutterleib abstirbt.
Und wie sieht nun die Behandlung bei Mädchen aus, wenn das Syndrom früh festgestellt wird?
Mit 52 Jahren zieht sie ins Seniorenheim
„Kleine Kinder kriegen heute Wachstumshormone, damit sie nicht kleiner bleiben als die anderen Kinder“, erklärt Professor Wagner. Und später, je nach Fall teils sogar ab elf Jahren, geben die Ärzte der Patientin weibliche Hormone. Die Auswirkungen des Ullrich-TurnerSyndroms aber lassen sich trotzdem nicht komplett unterdrücken.
Linde Reim genießt heute ihren Ruhestand. Sie geht viel hinaus in die Natur. Ist in der Flüchtlingshilfe tätig. Schreibt Gedichte und malt. Aber sie sagt: „Ich trauere um so viel Ungelebtes in meiner Jugend als Mädchen und Frau mit UllrichTurner-Syndrom.“Als Teenager hat sie sich oft gefragt, warum Geschlechtshormone eine derart große Rolle im Leben eines Menschen spielen. Wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn sie von Anfang an mehr weibliche Hormone gehabt hätte. Wie sie selbst dann gewesen wäre.
Darauf gibt es wohl keine Antworten. Linde Reim weiß das. „Aber ich lasse nicht nach, dem nachzuspüren, was mich ausmacht – unabhängig von allen Normen“, sagt sie.