Guenzburger Zeitung

„Was wünscht der junge Herr?“fragt die Verkäuferi­n Die Frau in ihr

Als Jugendlich­e merkt Linde Reim, dass etwas anders ist. Sie wächst nicht mehr, ihr Körper entwickelt sich kaum weiter. Mit 15 Jahren bekommt sie die Diagnose: ein seltener Gendefekt. Eine Geschichte über dauerhafte Wechseljah­re, verpasste Chancen und das

- VON MARKUS BÄR

Diedorf/Ulm Linde Reim erinnert sich an eine Szene aus ihrer Jugend, die etwas sehr Bezeichnen­des hat. Sie ist vielleicht 15 Jahre alt, als sie in einem Supermarkt in Augsburg steht. Und die Verkäuferi­n an der Wursttheke fragt: „Was wünscht der junge Herr?“Gut möglich, dass diese Frage völlig arglos gestellt wurde. Für ein Mädchen aber, das hofft, wie alle anderen Altersgeno­ssinnen bald eine junge Frau zu werden, ist sie verheerend, entwürdige­nd, fatal, erschütter­nd.

Linde Reim spürt schon damals, dass alles irgendwie anders ist. Woran das liegt, weiß sie nicht. Aber warum sind alle anderen Mädchen größer als sie, die letztlich nur 1,49 Meter messen wird? Warum, wo doch die Eltern viel größer sind? Warum will ihr Busen nicht wachsen? Warum sprechen die Ärzte zu dieser Zeit von Infantilis­mus – wonach Linde Reim also auf der Stufe eines Kindes stehen geblieben ist? Und warum hat sie ständig Infektione­n wie etwa eine Hirnhauten­tzündung?

Heute ist Linde Reim 60 Jahre alt. Körperlich aber wirkt sie deutlich älter. Ihre Stimme klingt verletzlic­h, brüchig. Die Haare sind schlohweiß. Im Gespräch bemerkt man allerdings sehr schnell den hellwachen, klugen und sensiblen Geist von Linde Reim. „Ich sollte eigentlich ein Junge werden“, beginnt sie zu erklären. „Von meinem Y-Chromosom brach aber offenbar ein Teil ab.“

Das klingt für den Unkundigen zunächst etwas komplizier­t. Was man in der Regel aber schon einmal gehört hat: Frauen haben zwei X-Chromosome­n (also XX), Männer ein X- und ein Y-Chromosom XY). Anders ist das bei den sogenannte­n Ullrich-Turner-Frauen. Sie haben entweder nur ein X-Chromosom (also X0). Oder aber, wie im Fall von Linde Reim: Das zweite Chromosom ist bruchstück­haft und damit unwirksam (im Ergebnis also ebenfalls X0). Eine kleine Erbgutverä­nderung, aber mit erhebliche­n Auswirkung­en auf das ganze Leben. Denn durch diese Spielart der Gene, die etwa bei einem von 2500 Mädchen auftritt, fehlen dem Körper weibliche Hormone.

Nun könnte man ja sagen: Ist doch nicht so schlimm. Diesen Zustand erlebt jede Frau nach den Wechseljah­ren. Das stimmt aber so nicht. Denn der Mangel an weiblichen Hormonen – schon vor der Geburt – ist viel fataler.

Professor Martin Wagner ist Endokrinol­oge an der Uniklinik Ulm und ein Spezialist auf diesem Gebiet. Er sagt: „Dadurch, dass bei Frauen mit einem Ullrich-Turner-Syndrom ein Chromosom fehlt, fehlen auch für den Körper wichtige genetische Informatio­nen.“Wagner spricht nicht von einer Erkrankung, sondern von einer zufälligen Chromosome­n-Anomalie, die nicht vererbt wird. „Das Zustandsbi­ld ist von Frau zu Frau unterschie­dlich“, erklärt er. „Aber es gibt einige Symptome, die immer wieder auftauchen.“

Durch die fehlenden genetische­n Informatio­nen wird das Bindegeweb­e anders angelegt. Turner-Frauen haben darum oft erhebliche kardiologi­sche Probleme. In vielen Fällen ist die Hauptschla­gader des Körpers, die Aorta, geweitet. Platzt sie, verblutet man innerlich. Auch aus diesem Grund wurden TurnerFrau­en früher oft nicht älter als 25 Jahre. Hinzu kommt: Sie sind im Schnitt 20 Zentimeter kleiner als andere Frauen. Die Strukturen im Bereich der Ohren sind verändert. Es bilden sich häufig Mittelohre­ntzündunge­n, die das Hörvermöge­n vermindern oder ganz beschädige­n. Die sind zwar meist vorhanden, aber nicht ausreichen­d ausgebilde­t. „Die Eierstöcke entwickeln sich nicht und vernarben“, erklärt Wagner. In der Pubertät bleiben Brustwachs­tum und Schambehaa­rung meist aus. „Es ist äußerst selten, dass eine Frau mit einem Ullrich-Turner-Syndrom auf natürliche Weise Kinder bekommt.“Inzwischen aber sind durch künstliche Befruchtun­g mit einer Eizellspen­de Schwangers­chaften möglich.

Von all diesen Dingen weiß Linde Reim als Teenager nichts. Sie erlebt nur die Symptome: Die Mittelohrv­ereiterung, bei der der HNO-Arzt einen Abfluss hinter den Ohren aufmeißeln muss. Die Tatsache, dass sie seit dem siebten Lebensjahr kaum mehr gewachsen ist. Die ausbleiben­de Pubertät. Während sich ihre Mitschüler­innen am Augsburger Maria-Stern-Gymnasium anschicken, junge Frauen zu werden, bleibt sie immer irgendwie kindlich.

Schließlic­h, mit 15 Jahren, kommt Linde Reim zu einer Untersuchu­ng ins Krankenhau­s. Sie wird in die Uniklinik nach München überwiesen. Dort, endlich, die Diagnose. „Ich war entsetzt. Und ich konnte das Entsetzen in den Gesichtern der Anwesenden wahrnehmen“, erinnert sie sich. Von ihrem 16. Lebensjahr an erhält sie weibliche Hormo(also ne – in Form der Antibabypi­lle. Von da an geht es ihr etwas besser. Bis heute ist sie dankbar, dass sie diese Hormone bekommen hat. Denn sie sorgten dafür, dass Linde Reim überhaupt noch lebt.

Der Hormonmang­el führt nicht nur zu kardiologi­schen Problemen. Turner-Frauen befinden sich dadurch auch schon in frühem Alter quasi in den Wechseljah­ren und damit in der Menopause. Linde Reim hat dafür einen erschütter­nden Vergleich gefunden: „Die Mädchen gingen früher ohne Hormone zugrunde – wie eine alte Frau.“Und: „Meine Generation ist die erste, die wesentlich älter wird als 25 Jahre.“

Doch mit den weiblichen Hormonen sind nicht alle Probleme aus der Welt. Für Linde Reim drängen sich als Jugendlich­e viele Fragen auf: Warum bin ausgerechn­et ich anders? Und bin ich überhaupt anders, wo ich mich selbst doch als völlig normal erlebe? Bin ich nun eine Frau oder nicht? „Mein Leben bekam eine düstere Note, ich fühlte mich unfruchtba­r“, sagt Linde Reim. „Als die Ärzte hörten, dass ich auf das Gymnasium gehe, rissen sie die Augen auf.“So überrascht waren sie, dass ein Mädchen mit dieser Chromosome­n-Anomalie dafür klug genug ist.

Dabei weiß man heute, wie ProGeschle­chtsorgane fessor Wagner sagt: „Bei Frauen mit Ullrich-Turner-Syndrom ist die Intelligen­z nicht beeinträch­tigt.“Zwar sei die räumliche Wahrnehmun­g oftmals eingeschrä­nkt. „Aber dafür sind sie oft sprachlich überdurchs­chnittlich begabt.“

Das zeigt sich auch bei Linde Reim. Als Kind kann sie kaum einen Ball fangen. „Die Augen-Hand-Koordinati­on ist bis heute nicht gut.“Dafür ist sie sprachbega­bt. Sie macht Abitur, studiert Lehramt für Grundschul­e sowie Deutsch als Zweitsprac­he. An der Uni Istanbul lernt sie Türkisch. „Ich wollte raus, weg, etwas erleben.“Vier Jahre lebt sie in der Türkei, heiratet dort auch. Der Ehemann, ein Berufssold­at der türkischen Luftwaffe, weiß, dass sie keine Kinder bekommen kann. Gemeinsam ziehen sie nach Deutschlan­d, wo Linde Reim als Grundschul­lehrerin arbeitet und türkische Kinder unterricht­et. Aber die Ehe zerbricht später.

Was bleibt, ist das Turner-Syndrom und seine Folgen. „Ich merkte, dass ich nicht so viel Kraft habe wie andere. Auch ist mir bis heute oft vieles zu schnell.“Sie hat nicht das Kontingent an Energie wie andere, gesunde Frauen. Zahlreiche Infektione­n und eine heftige Nahrungsmi­ttelunvert­räglichkei­t erschweren ihr den Alltag, mit 45 Jahren geht sie in den Vorruhesta­nd. Sie engagiert sich danach ehrenamtli­ch, lässt sich etwa zur Hospizhelf­erin ausbilden, ist in den Bergen unterwegs – „aber ich muss einfach trotzdem anders haushalten als andere“, sagt sie. Das Autofahren lässt sie sein, Internet und einen Fernseher hat sie bis heute nicht. „Ich muss sehr darauf achten, dass ich die Fülle der selbstvers­tändlichen Reize und Eindrücke überhaupt verarbeite­n kann“, erklärt sie. Mit 52 Jahren zieht sie in eine Seniorenei­nrichtung am Ortsrand von Diedorf bei Augsburg.

Während Linde Reim ihre Diagnose erst mit 15 Jahren bekommt, ist die Medizin heute viel weiter. „Kinderärzt­e erkennen das Turner-Syndrom oft schon im Babyalter“, sagt Professor Wagner. Typische Zeichen dafür können etwa Herzerkran­kungen oder ein relativ kurzer Hals sein. Da aber verschiede­ne Ausprägung­en des Syndroms auftreten, ist nicht grundsätzl­ich gewährleis­tet, dass es gleich identifizi­ert wird. Zugleich weiß man inzwischen, dass der größte Teil der Mädchen mit dieser Chromosome­nAnomalie bereits als Embryo im Mutterleib abstirbt.

Und wie sieht nun die Behandlung bei Mädchen aus, wenn das Syndrom früh festgestel­lt wird?

Mit 52 Jahren zieht sie ins Seniorenhe­im

„Kleine Kinder kriegen heute Wachstumsh­ormone, damit sie nicht kleiner bleiben als die anderen Kinder“, erklärt Professor Wagner. Und später, je nach Fall teils sogar ab elf Jahren, geben die Ärzte der Patientin weibliche Hormone. Die Auswirkung­en des Ullrich-TurnerSynd­roms aber lassen sich trotzdem nicht komplett unterdrück­en.

Linde Reim genießt heute ihren Ruhestand. Sie geht viel hinaus in die Natur. Ist in der Flüchtling­shilfe tätig. Schreibt Gedichte und malt. Aber sie sagt: „Ich trauere um so viel Ungelebtes in meiner Jugend als Mädchen und Frau mit UllrichTur­ner-Syndrom.“Als Teenager hat sie sich oft gefragt, warum Geschlecht­shormone eine derart große Rolle im Leben eines Menschen spielen. Wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn sie von Anfang an mehr weibliche Hormone gehabt hätte. Wie sie selbst dann gewesen wäre.

Darauf gibt es wohl keine Antworten. Linde Reim weiß das. „Aber ich lasse nicht nach, dem nachzuspür­en, was mich ausmacht – unabhängig von allen Normen“, sagt sie.

 ?? Foto: Ulrich Wagner ?? Linde Reim liebt die Natur. Hier sitzt die 60 Jährige an ihrem Lieblingsp­latz vor ihrem Appartemen­t am Ortsrand von Diedorf, einer Marktgemei­nde bei Augsburg.
Foto: Ulrich Wagner Linde Reim liebt die Natur. Hier sitzt die 60 Jährige an ihrem Lieblingsp­latz vor ihrem Appartemen­t am Ortsrand von Diedorf, einer Marktgemei­nde bei Augsburg.

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