Die Qual im Bauch
Neun bis zehn Millionen Menschen in Deutschland leiden an einem Reizdarm. Oft findet der Arzt nichts. Aber der Patient ist krank. Eine neue Diät könnte Abhilfe schaffen
Von Familie und Freunden werden sie oft als Hypochonder wahrgenommen: Dauernd haben sie Bauchbeschwerden, aber die Ärzte kommen zu keiner Diagnose. Schmerzen im Bauch, Darmkrämpfe, Völlegefühl, Blähungen, Verstopfung, dann wieder Durchfall. Als einzige Erklärung fällt irgendwann der Begriff Reizdarm, der aber nichts wirklich erklärt. Die Diagnose Reizdarm bleibt übrig, wenn alle anderen möglichen Erkrankungen ausgeschlossen wurden. Neun bis zehn Millionen Menschen sollen Experten zufolge in Deutschland an einem Reizdarm leiden.
Peter Layer, Internist und Chefarzt der Medizinischen Klinik des Israelitischen Krankenhauses in Hamburg, formulierte es beim Ernährungskongress 2018 in Kassel so: „Der Patient klagt über Beschwerden, die er auf den Darm bezieht – und der Arzt findet nichts.“Kommen dann noch ein chronischer Verlauf von mindestens drei Monaten und eine wesentliche Beeinträchtigung der Lebensqualität hinzu, dann steht die Diagnose Reizdarm fest. „Dies ist dann eine richtige Krankheit und muss ernst genommen werden“, so Layer.
Schätzungen zufolge leiden etwa zwölf bis 15 Prozent der Europäer an dieser Erkrankung. Frauen tauchen in der Statistik häufiger auf als Männer, aber das könnte auch daran liegen, dass sie mit ihren Beschwerden eher zum Arzt gehen. Es gibt nicht die eine Ursache für das Reizdarmsyndrom, sondern viele verschiedene. Wahrscheinlich müssen auch mehrere Faktoren zusammenkommen. So wird etwa vermutet, dass die Nerven rund um den Darm besonders empfindlich sind und eine veränderte Aktivität aufweisen.
Wenn der Darm sich etwa aufgrund der Nahrungsmenge weitet, wird das von den Nerven als Schmerzsignal ans Gehirn gemeldet. Zudem reagiert der Darm auf Stresshormone oder andere Botenstoffe, die direkt in der Darmschleimhaut freigesetzt werden. Dann kann es etwa zu einer gesteigerten Beweglichkeit des Verdauungsorgans kommen, was als sehr unangenehm empfunden wird.
Darüber hinaus kann die Permeabilität der Darmwand erhöht sein, das heißt, die so wichtige Barriere zwischen dem Darminhalt mit seinen Abermillionen von Bakterien und dem Körper funktioniert nicht wie sie sollte. Wenn die Darmwand für Mikroorganismen durchlässig wird, reagiert das Immunsystem und es kommt zu vielen kleinen Entzündungen, die sich krankmachend auswirken können. Die Störung der Darmbarriere kann durch eine ungünstige Bakteriengemeinschaft im Darm hervorgerufen werden – verursacht etwa durch Antibiotika-Behandlungen oder durch eine Darminfektion. Aber auch durch Nahrungsbestandteile.
Besonders wichtig bei Patienten mit einem Reizdarm ist eine ausführliche Diagnose. Erst wenn alle Krankheiten, die ähnliche Symptome zeigen, ausgeschlossen wurden, steht die Diagnose fest. Vielleicht wird es in Zukunft einen schnelleren Weg geben, um das Reizdarmsyndrom eindeutig zu diagnostizieren, denn verschiedene Forschergruppen arbeiten an sogenannten Biomarkern zum Thema Reizdarm. Dies sind objektiv messbare, biologische Merkmale, die eine Krankheit anzeigen. Michael Schemann vom Lehrstuhl für Humanbiologie der Technischen Universität München sagt: „Bisher werden MagenDarm-Beschwerden nur aufgrund des Ausschlussprinzips diagnostiziert. Uns ging es darum, einen Biomarker zu finden, der ein Reizdarmsyndrom zumindest bei einer bestimmten Patientengruppe anzeigt.“Ein Team mehrerer Kliniken in Europa unter der Leitung Michael Schemanns untersuchte die verso, änderte Aktivität der Nerven in der Darmwand. Sie fanden ganz bestimmte Stoffe (Proteasen), die von der Darmschleimhaut freigesetzt werden und eine nervenaktivierende Wirkung haben. Nur bei Patienten mit Reizdarmsyndrom liegen diese Proteasen in erhöhter Konzentration vor – nicht bei Gesunden und auch nicht bei Patienten mit anderen chronisch entzündlichen Darmerkrankungen.
Trotz des Erfolgs dämpft Michael Schemann allzu hoch gesteckte Erwartungen: „Man muss davon ausgehen, dass es nie den einen Biomarker geben wird. Die Ursachen sind mannigfaltig.“Zudem können die von ihm und seinem Team entdeckten Proteasen noch nicht in der Routinediagnostik genutzt werden, da dies viel zu teuer wäre. „Um Biomarker in die Klinik zu bringen, müssen kostengünstigere Verfahren entwickelt werden“, so Schemann.
Bis dies eines Tages soweit ist, bleibt den Ärzten nichts anderes übrig, als alle Krankheitsoptionen mit ähnlichen Symptomen zu prüfen. Dazu gehören beispielsweise Medikamentennebenwirkungen, Nahrungsmittelunverträglichkeiten, chronisch entzündliche Darmerkrankungen, Darmkrebs oder auch Eierstocktumore. „Jede Patientin muss zum Gynäkologen“, betonte Peter Layer, „denn Ovarialtumore beginnen alle mit vergleichbaren Symptomen wie beim Reizdarm.“
Wenn die Diagnostik einmal richtig durchgeführt sei, könne man sich jahrelang darauf stützen, so der Experte. „Man kann sich dann auf die Therapie konzentrieren.“Die Behandlung und Symptomlinderung ist alles andere als einfach. Aufgrund der verschiedenen Ursachen gibt es auch viele unterschiedliche Stellschrauben, an denen man drehen kann. Der Gastroenterologe Johann Ockenga vom Klinikum BremenMitte brachte es in Kassel auf den Punkt: „Kausal kann noch nicht therapiert werden, nur symptomatisch.“Dies bedeutet, man muss auf den Feldern Ernährung, Psyche und Lifestyle ausprobieren, was dem Patienten individuell Linderung verschafft. Neben regelmäßigen Mahlzeiten und genug Schlaf wird auch Sport empfohlen. Im Rahmen einer Ernährungsberatung können verschiedene Diät-Formen getestet werden. Johann Ockenga rät jedoch, den Versuch nicht zu lange auszudehnen. Eine vermehrte Ballaststoff-Aufnahme etwa hat meist nur einen moderaten Effekt, oft geht es dem Patienten sogar schlechter.
In jüngster Zeit wird häufig die sogenannte Low-Fodmap-Diät (siehe Info-Kasten) als Behandlungsoption empfohlen. Etwa 70 Prozent der Reizdarm-Patienten scheinen davon zu profitieren, aber eine spezifische Wirkung wurde bis jetzt nicht nachgewiesen. Experten nehmen an, dass der Placebo-Effekt eine Rolle spielt. Dieser scheint auch bei der Verabreichung von Probiotika (also Zubereitungen mit Mikroorganismen wie etwa Milchsäurebakterien) mit im Spiel zu sein. Da bei Reizdarmpatienten die Vielfalt der Darmbakterien reduziert ist, versucht man, mit bestimmten Bakterienstämmen in den Probiotika das Defizit auszugleichen.
Doch nicht jeder Patient spricht auf das gleiche Probiotikum an: Wer unter Schmerzen und Blähungen leidet, dem hilft eventuell ein Präparat mit Bifidobakterien, bei Verstopfung kann ein Probiotikum mit Lactobacillus Besserung bringen. Auch hier gilt es auszuprobieren, was einem guttut.
„Der Reizdarm ist eine richtige Krankheit und muss ernst genommen werden.“Professor Peter Layer Internistischer Chefarzt in Hamburg