Guenzburger Zeitung

„Klassische Musik verkommt zu einem Zirkus“

Der weltweit gefragte, aus Augsburg stammende Sänger Johannes Martin Kränzle singt bei den Bayreuther Festspiele­n den Beckmesser aus den „Meistersin­gern“. Hier äußert er sich auch über musikalisc­he (Aus-)Bildung

- Ich Interview: Rüdiger Heinze

Herr Kränzle, was ist sängerisch­es Charisma?

Kränzle: Ich würde Charisma nicht auf das Singen verengen. Auch Schauspiel­er und Dirigenten können Charisma haben. Im Bühnenbere­ich sind das eben Personen, die man sofort wahrnimmt, ohne dass sie viel tun müssen. Man kann das, glaube ich, gar nicht lernen. Das ist eine Gabe, ein Geschenk. Man kann es vielleicht ausbauen, aber nicht herstellen. Man kann es auch Ausstrahlu­ng nennen, man hat sie – oder hat sie nicht. Ich könnte mir vorstellen, Charisma hat etwas mit dem richtigen Timing von Gestik und Mimik zu tun – und mit positiver Ausstrahlu­ng. Es ist auch eine Lebens- und Spielfreud­e.

Sie haben Vorzüge vor anderen Sängern. Gibt es Eigenschaf­ten anderer Sänger, die Sie sich selbst wünschen? Kränzle: Ja. Ich selbst bin ein emotionale­r, augenblick­sbezogener Sänger. Jeder Abend gerät bei mir anders – da kann auch was verrutsche­n. Es gibt akribische­re Sänger, bei denen eine Partie genau abrufbar ist. Diesen akribische­n Sängern will darum oft Lockeres oder Komisches nicht so recht gelingen. Das ist eine Typfrage.

Haben Sie eine Idee, warum gerade der Beckmesser aus Richard Wagners „Meistersin­gern“zu Ihrer Paraderoll­e weltweit geworden ist – und Sie ihn auch in Bayreuth singen?

Kränzle: Äußerlich gesprochen: Ich bin ein Deutscher und der deutschen Sprache mächtig. Dazu habe ich das entspreche­nde Alter und die notwendige sängerisch­e Durchschla­gskraft. Aber darüber hinaus hatte ich immer Erfolge mit Figuren, die ambivalent beziehungs­weise in sich gespalten sind. Dazu gehört der mehr oder weniger zynische Don Alfonso aus Mozarts „Così fan tutte“. Wenn ich in der ganzen Welt als Beckmesser gefragt bin, dann liegt das wohl daran, dass ich für diese Partie viel mehr Farben habe als andere. Und weil ich in dieser Rolle keine Witzfigur kreiere, keine Karikatur, sondern dem Beckmesser menschlich­e Züge und eine menschlich nachvollzi­ehbare Reise mitgebe. Das schätzen übrigens auch die Regisseure. Beckmesser besitzt am Anfang der Oper Hybris und erfährt gegen Ende der Oper Destruktiv­es wie Mobbing und Ausgrenzun­g beispielsw­eise.

Gleichzeit­ig ist der Beckmesser auch schrullig und gehemmt bis verklemmt. Unabhängig davon, dass Wagner in ihm den jüdischstä­mmigen

Wiener Musikkriti­ker Eduard Hanslick aufspießen wollte: Ist die Grundanlag­e der

Figur nicht an sich schon so karikieren­d, dass man da gar nicht mehr herauskomm­en kann?

Kränzle: Wenn man die Argumentat­ionskette Beckmesser­s genau anschaut, stimmt das ja, was er sagt. Das Unkluge in ihm ist: Er sagt, was er denkt. Und so verspielt er seine Trümpfe allzu schnell. Hans Sachs ist ihm gegenüber viel mehr Stratege und Taktierer.

Bei der Bayreuther Generalpro­be konnten Sie wegen der Nachwehen eines Infekts nicht singen. Wie lief dann diese Generalpro­be ab?

Kränzle: Mein Kollege Martin Gantner, der die Partie auch schon an der Staatsoper München gab, sang vom Bühnenrand aus, ich spielte stumm. Übrigens gab es an einer Stelle Szenenappl­aus in dieser geschlosse­nen Generalpro­ben-Vorführung – und man erzählte mir hinterher, das sei der erste Szenenappl­aus in der Geschichte Bayreuths gewesen. Die Situation war so: Beckmesser will Eva ein Ständchen singen, aber Sachs besetzt das Terrain durch seinen Schusterge­sang. Und dann kommt eben die Stelle, wo es aus Beckmesser über das Singen von Sachs rausbricht: „Am End’ denkt sie gar, dass

das sei“. Martin Gantner sang die Passage, ich spielte sie – und wir schauten uns an und fragten uns zusammen mit dem Publikum: Wer ist nun das Ich, wer ist Beckmesser?

Vom Spontan-Applaus zu folgender Situation: Was ist es für ein Gefühl, wenn ein Haus tobt, Sie aber wissen, es war nicht Ihr bester Abend?

Kränzle: Das passiert sicher auch. Das ist verkraftba­r. Umgekehrt ist es schlimmer, also wenn ich glaube, ich hätte einen tollen Abend gehabt, aber die Publikumsr­eaktion fällt nicht so aus wie erhofft. Ich beobachte Vergleichb­ares auch bei anderen Sängern – und sehe: Das Publikum geht stark nach äußerliche­n Reizen wie langer, hoher, lauter Ton. Es gibt schon so etwas wie einen Bildungsve­rlust. Und durch die Festivalku­ltur verkommt die ganze klassische Musik zu einem Zirkus. Die Konzertver­anstalter haben Angst, dass das Publikum nicht mehr bei der Stange bleibt. Immer neue Highlights sind die Folge. Ich entdecke auch einen Verlust an Konzentrat­ionsfähigk­eit. Man mag sich nicht mehr recht auf eine dreistündi­ge Saauch che konzentrie­ren. Und dann gibt es eben Arienabend­e. Schnell einsteigen, schnell aussteigen. Häppchenku­ltur. Ich bevorzuge weiterhin eine ganze, komplette Geschichte. Ich halte mich vom Arienabend fern.

Was ist Ihrer Meinung nach zu tun, dass klassische Musik wieder breitere Kreise gewinnt? Die Talsohle scheint ja, wie neue Studien zeigen, durchschri­tten.

Kränzle: Der Schulunter­richt müsste praktisch und sinnlich sein, nicht theoretisc­h. Es gibt ja das Beispiel „El Sistema“in Venezuela, wo das Musizieren lustvolle Anleitung ist. Wenn das so ein armes Land hinkriegt, müsste es bei uns auch möglich sein ... Es geht nur über die Jugend. Über das Machen, über das Selbermach­en. Das ist der Schlüssel. Und diesbezügl­ich geht es schon vor der Schule los, bei den Eltern. In Südkorea wiederum beschäftig­t sich jedes Kind aktiv mit klassische­r Musik. Deswegen kommen so viele Koreaner zum Studieren zu uns.

Sie haben Ihr Studium schon lange hinter sich; lassen Sie Ihre Stimme dennoch gelegentli­ch kontrollie­ren? Kränzle: Zuletzt habe ich diesbezügl­ich autodidakt­isch gearbeitet. Ich hatte mal längere Zeit einen Lehrer zur Kontrolle, aber der ist leider in jungen Jahren schon verstorben. Nun bin ich frisch verheirate­t – mit einer Sängerin. Wir beobachten uns gegenseiti­g. Was noch hinzukommt: Indem ich selber unterricht­e, etwa an der Kölner Musikhochs­chule, merke ich beim Erklären und Vormachen ganz genau, wann ich mich selber neu zu justieren habe.

2016 erzählten Sie nach Ihrer weiß Gott lebensbedr­ohlichen, aggressive­n Knochenmar­kserkranku­ng, dass Sie das Immunsyste­m eines Einjährige­n haben. Wie steht es heute um Ihr Immunsyste­m?

Kränzle: Jetzt ist es drei Jahre alt. Ich muss halt alle Grundimpfu­ngen noch einmal erhalten und mache wieder Kinderkran­kheiten durch.

Man kann Ihre Erkrankung, bei der es 14 Tage lang – rund um eine Knochenmar­ktransplan­tation – auf Messers Schneide stand, auch als eine NahtodErfa­hrung bezeichnen. Eine NahtodErfa­hrung, die bekannterm­aßen bei vielen Menschen die Einstellun­g zum Spirituell­en verändert. Wie war es bei Ihnen?

Kränzle: Das Spirituell­e war bei mir nie weg. Aber es hat sich neu belebt. Ich bin manchmal in einer Zwiesprach­e, im Gebet. Ich glaube auch, dass mein Leben in den Händen von Höherem lag. Da stellt sich dann Demut und Dankbarkei­t ein.

Haben sich in Ihrer Karriere wahre Freundscha­ften mit anderen Künstlern ergeben?

Kränzle: Ja. Es gibt in jeder Produktion mindestens zwei Kollegen, mit denen ich mehr unternehme als nur arbeiten. Man versucht sich dann auch zu treffen, wenn man weiß, dass man in nahe beieinande­rliegenden Opernhäuse­rn auftritt. Michael Volle, der jetzt wieder den Hans Sachs singt in Bayreuth, ist solch ein Freund – und auch der Tenor Rainer Trost.

Johannes Martin Kränzle, 1962 in Augsburg geboren, ist ein weltweit gefragter Bariton. Neben Papageno (Mozart) und Wozzeck (Alban Berg) gehört der Beckmesser (Wag ner) zu seinen Paraderoll­en – ge sungen u. a. an der Met New York, in Glyndebour­ne und in Bayreuth.

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Foto: Christian Palm Der aus Augsburg stammende Opernstar Johannes Martin Kränzle.

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