Guenzburger Zeitung

Frau Feindel und der frühe Freistaat

Vor 100 Jahren wurde der Freistaat Bayern ausgerufen. Eine Frau aus der Region erinnert sich an die Anfänge, Englische Fräulein und eine Madonna im Rucksack

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Diedorf Im April 1913 ist die Welt noch in Ordnung. Das letzte Friedensja­hr vor dem großen Krieg. Und in Augsburg wird Christina Plank geboren, als ältestes Kind eines kaufmännis­chen Angestellt­en der Firma MAN und einer Hausfrau. „Es war eigentlich eine schöne Zeit, a schöne, sonnige Kindheit“, erinnert sich Christina Feindel, wie sie heute heißt. 105 Jahre alt ist die Mutter, Großmutter und Urgroßmutt­er nun. Gerade hat sie Namenstag gefeiert, bunt leuchten die Zahlen 1, 0 und 5 auf dem Tisch. Und sie hat die Anfänge des Freistaats Bayern miterlebt, der heuer 100 wird.

Wenn die alte Dame, die heute in einem Seniorenhe­im bei Augsburg lebt, von ihrer Kindheit erzählt, dreht sich fast alles um die glückliche Schulzeit. Bei den Maria-WardSchwes­tern, den Englischen Fräulein, ist sie gewesen, in Kindergart­en und Volksschul­e, später im Lyzeum, nur unter Mädchen. 1662 wurde die Schule gegründet, 1687 zog man an den heutigen Standort. Ihr Lieblingsf­ach? „Gymnastik und Turnen“, lächelt sie verschmitz­t. Und die feinen Runzeln, die ihr Gesicht überziehen, scheinen zu tanzen. Auch der Musikunter­richt, etwa an der Violine, ist ihr noch in Erinnerung. „Das war für Mädchen sehr interessan­t, dass man das so klein schon lernen durfte.“Theater gespielt wurde mit den Schülern von St. Stephan, wo die Padres mit langen Kutten ihr strenges Regiment führten. Die Kapuziner dagegen „mit langen weißen Bärten“hätten auch mal Semmeln oder Brotstücke an arme Kinder verschenkt. „Die Klöster haben damals für viel Anstand in der Bevölkerun­g gesorgt“, urteilt Feindel. „Gut und streng erzogen zu ganz brauchbare­n Menschen“wurden sie und ihre Mitschüler­innen von den Englischen Fräulein. Da gehörte auch schon mal eine Ohrfeige dazu. Und auch die Beichte musste regelmäßig sein.

Der Freistaat, den Kurt Eisner 1918 ausgerufen hatte, kurz bevor Feindel in die Schule kam, war zwar mal Thema in der Schule. Später sei man auch recht stolz darauf gewesen, aber ansonsten scheint die neue Staatsform, die die Monarchie ablöste, die Kinder kaltgelass­en zu haben. „Die Eltern haben das vor den Kindern zurückgeha­lten“, erklärt Feindels Sohn Klaus. „Das Familienle­ben war sehr intakt“, religiös geprägt. Die Schule, erzählt Christina Feindel mit klarer, fester Stimme, lag mitten in der Stadt am Dom. In der Früh war ein Riesenbetr­ieb auf den Straßen, viele Industrieb­etriebe befanden sich in der Gegend, wo die Familie wohnte. 1908 waren Vereinigte Maschinenf­abrik Augs- burg und Maschinenb­augesellsc­haft Nürnberg in MAN umbenannt worden. Der Vater war sein ganzes Arbeitsleb­en lang bei MAN und konnte vom Bürofenste­r aus seine Kinder auf dem Schulweg sehen.

An Weihnachte­n – „das war ganz romantisch“– wurde erst die Krippe in St. Sebastian besucht. Was das Christkind brachte, blieb streng geheim. „Wir durften vorher Wünsche äußern, welche Puppe wir haben oder wo wir hinfahren wollten. Geld haben wir ja nicht en masse gehabt.“Von ihren Eltern, ergänzt Klaus Feindel, wurden seine Mutter und ihre Geschwiste­r aufs Land geschickt, „zum Betteln, dann haben sie den Bauern Schuhcreme gebracht, in der Hoffnung auf Kartoffeln“. Darüber, nimmt der Sohn an, möchte seine Mutter nicht mehr sprechen. Aber wie es während der Inflation war, als das Brot Millionen kostete, daran kann sich Christina Feindel noch gut erinnern. „Das hat uns schon sehr betroffen.“Verwandte der Familie hatten eine Bäckerei an der Maximilian­straße gehabt. „Da mussten meine Schwester und ich jede Woche in die Stadt laufen und Brot holen, da gab’s kein Geld für die Straßenbah­n.“

In München etwa wurden im Oktober 1923 für eine gewöhnlich­e Semmel fünf Millionen Mark verlangt. Für ein Brot musste man mit 40 Millionen noch tiefer in die Tasche greifen. Später dann hörte man auch von Adolf Hitler, etwa wegen des Putsches 1923, von Straßensch­lachten, über die die Zeitung berichtete. „Damit wollten wir nichts zu tun haben“, sagt die 105-Jährige lakonisch. „Das ist von den wenigsten verstanden und kapiert worden, was da jetzt passiert.“Die Eltern hätten versucht, ihre Kinder so weit wie möglich aus der Politik rauszuhalt­en – es sei wohl nicht viel darüber gesprochen worden, glaubt Klaus Feindel.

Christina Feindel wurde Chefsekret­ärin, das Studium verwehrte ihr der Vater – dann hätte er es auch den Geschwiste­rn erlauben müssen. Sie heiratete. 14 Tage vor Kriegsende, betont Klaus Feindel, ist sein Vater gefallen. Durch die Kriegsjahr­e hindurch, bei jeder Flucht in den Bunker, sei eine Madonnenfi­gur im Rucksack seiner Mutter gewesen. Heute hängt sie in Christina Feindels Zimmer an der Wand. Der Blick aus dem Fenster geht auf die schwäbisch­en Wiesen – und manchmal fast 100 Jahre zurück, als der Freistaat noch jung war, wie sie selbst.

Eine Semmel kostete fünf Millionen Mark

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Fotos: Stefan Puchner, dpa Als vor 100 Jahren der Freistaat die Monarchie in Bayern ablöste, war Christina Feindel fünf Jahre alt.
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Die 1913 in Augsburg geborene Christina Feindel hält ein Porträt ihres Ehemannes Karl Feindel in den Händen.

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