Sie lassen ihn laufen
Ein italienisches Gericht schickt erstmals einen jugendlichen Straftäter auf den Jakobsweg. So soll er sich selbst hinterfragen. Schafft er das, werden seine Taten annulliert
Venedig Marwan ist wieder da. 85 Tage lang war er unterwegs, 1500 Kilometer legte er zu Fuß zurück, 17 Kilometer am Tag. Es gibt Menschen, die das freiwillig machen. Für Marwan ist das nicht ohne Weiteres zu behaupten. Vor 22 Jahren wurde er als Kind marokkanischer Einwanderer in Norditalien geboren, er hat in Wirklichkeit einen anderen Namen. Mit 15 verübte Marwan einen Raubüberfall.
Erst jetzt wurde die italienische Justiz aktiv, sie entschied, den Jungen in Begleitung drei Monate lang auf dem Jakobsweg in Spanien marschieren zu lassen. Er ist der erste jugendliche Straftäter in Italien, den man laufen ließ, damit er den richtigen Weg findet. Marwan war skeptisch. „Wie soll das funktionieren, sich beim Laufen zu verändern?“, fragte er sich vor Beginn der Langstreckenwanderung in diesem Frühjahr. Auf dem Weg habe er verstanden, dass ihm diese Erfahrung sehr nützlich sein könnte, erzählte er nach der Rückkehr im Juni.
in Deutschland sieht auch das italienische Jugendstrafrecht Erziehungsmaßregeln statt Strafen vor. Die Jugendlichen sollen so aus einem Teufelskreis entkommen, der sie oft dauerhaft an ein kriminelles Milieu bindet. In Anlehnung an positive Erfahrungen in Belgien und Frankreich, wo über 300 Jugendliche ein ähnliches Programm durchliefen, genehmigte das Jugendgericht Venedig nun erstmals in Italien eine Wanderung als erzieherische Maßnahme. Von Sevilla ging es auf der Silberstraße über Santiago de Compostela bis nach Léon. Marwan lief mit seinem Begleiter Fabrizio Preo und eisernen Regeln bis zum Schluss. Fern von der Heimat und nur mit sporadischem Telefonkontakt, um Abstand zu gewinnen.
„Das waren keine Ferien“, versichert Nicoletta Zanon vom Verein Lunghi Cammini aus Mestre, der das Projekt in Italien startete und dank eines privaten Spenders auch selbst finanzierte. Auf etwa 30 000 Euro beziffert Zanon die Kosten. Logistik, Begleiter und ein Betreuungs-Team aus Psychologe und So- zialarbeitern, das aus Italien den Kontakt hielt, haben ihren Preis.
Marwans Wecker klingelte spätestens um 6.30 Uhr. Alkohol, Handy oder Kopfhörer waren verboten. Dafür musste ein strenger Marschplan eingehalten werden, abends erwarteten die Wanderer oft unbequeme Nachtlager. Mit Preo, seinem 68-jährigen Begleiter, der wegen seiner Erfahrung mit als schwierig geltenden Jugendlichen unter mehreren Bewerbern ausgewählt worden war, standen regelmäßige Gespräche auf dem Programm. Der Sinn: laufen, nachdenWie ken, an seine Grenzen kommen, neue Perspektiven erkennen, Selbstbewusstsein gewinnen. „Es war ein Denklabor für mich“, erzählte Marwan, der drei Monate lang gezwungen war, sich mit sich selbst zu beschäftigen. „Wichtig waren auch die spontanen Begegnungen auf dem Weg“, berichtet Nicoletta Zanon. Jugendliche wie Marwan hätten oft konfliktbeladene Beziehungen zu Erwachsenen, etwa zu Eltern, Lehrern oder Ordnungskräften. Auf dem Jakobsweg aber begegne man sich „mit urteilsfreiem Blick und Empathie“, sagt Zanon. Das kannte Marwan nicht. Ungewohnt war auch, dass Vertrauen nicht bestraft wurde. „Die Wanderer ließen ihre Rucksäcke oft unbeaufsichtigt“, so der 22-Jährige überrascht.
Heute absolviert er ein Praktikum. Im November wird das Jugendgericht entscheiden, ob die Erziehungsmaßnahme erfolgreich war. Entscheidet das Gericht positiv, ist Marwans Führungszeugnis wieder unbefleckt und er steht möglicherweise vor einem echten Neuanfang.