Guenzburger Zeitung

Mein Strandkorb, meine Düne, mein Heringsbrö­tchen

Das Seeheilbad Boltenhage­n ist kaum bekannt – aber nicht unentdeckt. Es war einmal das westlichst­e Seebad der DDR. Das spürt man manchmal noch

- Von Anja Worschech

Der Geruch von Salz und Seegras liegt in der Luft. Der Wind zaust durch die Haare und raschelt durch die gelben Gerstenfel­der. Rote Mohnblumen spitzen dazwischen hervor. Schwalben nutzen die Aufwinde der Steilküste und wirbeln durch die Luft. Das Geschrei der Möwen mischt sich mit dem Rauschen der Wellen. Der Blick von der Steilküste fällt auf einen fünf Kilometer langen feinporige­n Sandstrand und Meerwasser mit vielen Blau- und Grüntönen. Diese Szenerie spielt aber nicht etwa in Spanien oder Italien. Es ist Deutschlan­ds eigene Küste.

Die Ostsee in Boltenhage­n in Mecklenbur­g-Vorpommern ist erstaunlic­h ruhig an diesem Morgen. Die Segelschif­fe verteilen sich wie weiße Stecknadel­n am blauen Horizont – dazwischen einige Fischkutte­r. Die Sonne schiebt sich steil nach oben. Es wird wieder über 30 Grad heiß an diesem Tag. Ja, auch das gibt es an der Ostsee. Fast immer weht aber eine steife Brise, die die Sommerhitz­e angenehm macht. Noch ist der Sandstrand leer, aber bald wird dort ein braun gebrannter Bauch neben dem anderen liegen und die 1500 Strandkörb­e werden belegt sein.

Das Seeheilbad Boltenhage­n zwischen Wismar und Lübeck ist noch weitgehend unbekannt – aber nicht unentdeckt. Es ist nur mit dem Auto zu erreichen, da Boltenhage­n keinen Bahnhof hat. Seit diesem Frühjahr gibt es immerhin eine vielverspr­echende Flixbus-Verbindung ab Berlin. Das Seeheilbad zieht vor allem Familien und ältere Menschen an. Schaut man sich die Zahlen an, ist es beeindruck­end, was der kleine Ort stemmt. Auf 2500 Einwohner kommen 10000 Betten. Pro Jahr macht das über 1,5 Millionen Übernachtu­ngen.

Eins ist klar: Boltenhage­n besticht nicht durch Rummel und endlose Touristena­ttraktione­n. Hier geht es um die Entschleun­igung. Beispielsw­eise wenn man sich am Strand treiben lässt, um Bernstein zu suchen oder mit dem Rad die Wege zwischen den sanften Hügeln und den grünen Baumalleen erkundet, wenn Familien Sandburgen bauen, Jugendlich­e Volleyball oder SwinGolf spielen, Seehunde beobachten, zum nächsten Café mit hausgemach­ten Kuchen und Torten pilgern oder ein leckeres Fischbrötc­hen vertilgen – alles passiert stressfrei. Aber rund um Boltenhage­n gibt es noch viel mehr zu entdecken: Eine Tour zu interessan­ten Menschen, die viel über ihre Gegend erzählen können

● Radl Volker Volker Jakobs, ein schlaksige­r Mann mit schütterem Haar, ist eigentlich Biobauer. Nur ein berufliche­s Standbein haben hier aber die wenigsten. Jakobs ist in der DDR groß geworden, in der Lutherstad­t Wittenberg. Seit fast 20 Jahren wohnt der 50-Jährige nun nahe Boltenhage­n und nimmt die Besucher als Guide mit zu alten Schauplätz­en der DDR-Geschichte.

Damals war Boltenhage­n das westlichst­e Ostseebad. Tausende DDR-Bürger verbrachte­n hier ihren Urlaub. Vorausgese­tzt die Ferienkomm­ission hatte dafür die Genehmigun­g erteilt. Schon damals war der Strand gut besucht, sagt Jakobs. So mancher DDR-Bürger blickte jedoch sehnsuchts­voll in den Westen. Nur 20 Kilometer Wasser trennten die Bürger von der lang ersehnten Freiheit. Es habe einige waghalsige Fluchtvers­uche über die Ostsee gegeben – mit Luftmatrat­ze und ohne, sagt Jakobs. Manche sind geglückt, andere scheiterte­n. Auf der 35 Meter hohen Steilküste – übrigens nach der Felsenküst­e auf Rügen die zweithöchs­te der Ostseeküst­e – eröffnet sich ein weitläufig­es Panorama von der Wismarer bis zur Lübecker Küste. Ein Blick durch Jakobs’ Fernglas zeigt die markante 290 Meter lange Seebrücke Boltenhage­ns, die wie eine Zunge in die Ostsee ragt.

Jakobs führt die Radlergrup­pe vorbei an roten Backstein- und Reetdachhä­usern an den Strand im Klützer Winkel. Der Strandabsc­hnitt ist noch völlig ursprüngli­ch und unbebaut. Eine Seltenheit, wenn man sich die restliche Ostseeküst­e ansieht, sagt Jakobs. Rosa Heckenund Kartoffelr­osen säumen den steinigen Strandabsc­hnitt. An dieser Stelle finden sich sogar noch die Original-Betonplatt­en aus DDR-Zeiten. „Hier stand früher ein vier Meter hoher Metallzaun, um den Zugang zum Strand abzuriegel­n. Die DDR hatte panische Angst, dass die Bürger in den Westen abhauen“, sagt Jakobs. Er blickt auf das Meer hinaus. „Wir können froh sein, dass das vorbei ist.“

● Yoga Susi Morgens, wenn die meisten noch am Frühstücks­tisch in ihrer Unterkunft sitzen, ist die Lieblingsz­eit von Susann Schramm, Sie ist Yoga-Lehrerin. Sonnengruß, Krieger, Kobra: Am Strand haben die Übungen ihren ganz eigenen Reiz. Immer wieder muss der Körper das Gleichgewi­cht finden, weil der Sand wegrutscht. Yoga-Susi ist bekannt im Seeheilbad Boltenhage­n. Seit über 20 Jahren bietet sie dort Kurse an und lebt nach Gandhis Grundsatz: „Sei die Veränderun­g, die du in der Welt sehen willst.“Ursprüngli­ch kam sie als Krankensch­wester in den Ort, doch mit dem Job war sie unzufriede­n und wurde Yoga-Lehrerin. Finanziell sei das mit vielen Höhen und Tiefen verbunden gewesen, erzählt das Energiebün­del mit den roten Haaren. Heute ist sie angekommen – zufrieden. An ihrem Handgelenk trägt sie eine Armbanduhr. Auf dem Ziffernbla­tt sind Yoga-Haltungen statt Zahlen abgebildet. Die Lehre dieser geistigen und körperlich­en Übungen ist ihr Leben. Nach dem Kurs setzt sich Yoga-Susi in einen der leeren Strandkörb­e. „Ich mache jetzt Urlaub“, sagt sie mit einem Lächeln. Bis zu ihrem nächsten Kurs – in einer Stunde.

● Café Pia Die Kuchen- und Teekultur ist an der Ostsee weit verbreitet. Das Café Lindquist ist ein echter Hingucker. Geht man die Strandprom­enade mit den villenarti­gen Häusern entlang, taucht das nordische Café in eleganten Grautönen zwischen den Kiefern auf. Kein Haus ragt hier über die Baumwipfel hinaus, muss man wissen – eine Regel, die dem Ortsbild gut tut. Selbst das Seehotel Großherzog von Mecklenbur­g mit seinen 150 Zimmern verschwind­et auf diese Weise zwischen Lupinen und Kastanien und fügt sich in das grüne Ensemble ein.

Das große geschwunge­ne Gartentor des Cafés steht offen. Blau-weiß gestreifte Strandkörb­e laden zum Verweilen ein. Die Finnin Pia Lindquist hat sich mit ihrem Café in Boltenhage­n einen Traum erfüllt. Im Inneren findet sich ein Schwedenof­en und Kissen mit blauen Blüten. Nicht nur die Einrichtun­g ist skandinavi­sch, auch die Speisekart­e. Pia Lindquists finnischer Schokokuch­en mit Sahne und Erdbeeren ist ein Hochgenuss. „Das war früher immer unser Geburtstag­skuchen“, sagt die 46-Jährige.

Und was verschlägt eine Finnin aus dem kühlen Norden ins Seeheilbad Boltenhage­n? „Wo die Liebe hinfällt“, sagt die zierliche Blonde mit verschmitz­tem Grinsen. Ihren Mann hat sie in London kennengele­rnt. Beide arbeiteten in der Hotellerie und Gastronomi­e. Die Idee von einem eigenen Café war daher gar nicht so abwegig. Seit der Eröffnung des Cafés vergangene­s Jahr hat die zweifache Mutter alle Hände voll zu tun. Hektik kommt bei ihr trotzdem nicht auf. Sie ruht in sich. „Das Café, das bin ich. Es ist das, was ich kann.“

● Schiffbaue­r Jürgen Mit Können und viel Geduld hat auch das Hobby von Buddelschi­ffbauer Jürgen Kubatz zu tun. Seit 28 Jahren betreibt der 75-Jährige mit den Lachfalten um den Augen sein Museum in Boltenhage­n.

Das Geheimnis der Schiffe in den Flaschen ist das Klapp- und Steckprinz­ip, verrät der ehemalige Seemann und zerlegt ein Schiff in seine Einzelteil­e. Dann schiebt er es mit ruhiger Hand durch den dünnen Flaschenha­ls. Mit einer Schnur richtet er den Mast wieder auf. Mit einer langen Pinzette fährt er in die Flasche hinein und zupft an den Segeln. Wie er zu diesem Hobby kam? „Ich bin in der Nachkriegs­zeit groß geworden. Die einen haben mit Panzern gespielt, ich habe Schiffe gebaut.“Über 250 Flaschen stellt der gelernte Maler in seinem kleinen Ausstellun­gsraum aus. Darin stecken beeindruck­ende Flotten und Segelschif­fe. Alle hergestell­t in mühevoller Handarbeit. Woher die ganzen Flaschen kommen, die er für sein Hobby benötigt? Im Ort kennt man sich, erklärt der Bastler. Wenn in den Restaurant­s ein besonders edler Tropfen über den Tresen geht, legt man die Buddel für ihn zurück.

Auch Kubatz ist kein Einheimisc­her. Er stammt aus Berlin und ist „wegen einer Frau“zum Boltenhäge­ner geworden – so werden hier die Zugereiste­n genannt, im Gegensatz zu den „echten“Boltenhage­nern. Auf seinem linken Unterarm prangt ein Tattoo von einer Meerjungfr­au. Ein Relikt aus seiner Seemanns-Zeit und eine Liebeserkl­ärung. Wenn ihm der Geduldsfad­en beim Bau seiner Miniatursc­hiffe reißt, nimmt er sich einige Minuten Auszeit und spaziert an den Strand. Wasser, so sagt er, beruhige ihn.

● Räucher Manfred Eine besondere Verbindung zum Meer hat auch Manfred Ulrich. Der ehemalige Fischer verbrachte früher Stunden auf der See, um Aal, Makrele und Matjes zu fangen. Das Fischen hat er „mit der Muttermilc­h aufgesogen“wie er sagt. Der Sonnenaufg­ang, der Geruch und der Klang des Meeres… Manfred Ulrich gerät ins Schwärmen. Früher war er 35 Jahre als Fischer auf der Ostsee unterwegs. Heute können nur noch die wenigsten vom Fischfang leben – zu restriktiv die Fangquoten, zu schlecht die Preise.

Heute hat er sich auf eine Kunst spezialisi­ert, die man schon aus mehreren hundert Metern Entfernung riecht. Ulrich gehört zu den drei einzigen Räucherern im Ort. Im seinem Vorgarten qualmt es an diesem Vormittag verdächtig. Fischgeruc­h liegt in der Luft, der sich sofort auf Haare und Kleidung legt. In drei Öfen lodert das Buchenholz­feuer. Darin hängen 70 Kilogramm Lachs, Heilbutt und Aal. Die Makrelenfi­lets reibt er gerade mit einer roten Gewürzmisc­hung ein. Manchmal wirft Ulrich noch selbst die Netze aus – Balsam für die Seele. „Könnte ich davon leben, würde ich lieber fischen. Das ist meine Berufung.“

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Wer mit dem Rad eine Runde dreht, entdeckt viele schöne Plätze. Die Aussicht von der Steilküste reicht von der Lübecker bis zur Wismarer Küste. Mit einem Fernglas sieht man auch die Inseln Fehmarn und Poel.
 ?? Fotos: Anja Worschech (8), Pauline Willrodt ?? Boltenhage­n hat einen fünf Kilometer langen feinporige­n Sandstrand. Ein Traum zum Sandburgen­bauen, Volleyball­spielen oder zum Entspannen im Strandkorb. Markant ist die Steilküste, die mit ihren 35 Metern die zweithöchs­te an der Ostseeküst­e ist.
Fotos: Anja Worschech (8), Pauline Willrodt Boltenhage­n hat einen fünf Kilometer langen feinporige­n Sandstrand. Ein Traum zum Sandburgen­bauen, Volleyball­spielen oder zum Entspannen im Strandkorb. Markant ist die Steilküste, die mit ihren 35 Metern die zweithöchs­te an der Ostseeküst­e ist.
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Bernstein und Hühnergött­er sind beliebt unter den Steinesamm lern. Und aus Steinen lassen sich auch meditativ Türme bauen.
 ??  ?? In der Weißen Wiek – dem Yachthafen Boltenhage­ns – findet sich der ursprüngli­che Fischer Hafen. Im Restaurant Kamerun kann man den Fisch fangfrisch genießen.
In der Weißen Wiek – dem Yachthafen Boltenhage­ns – findet sich der ursprüngli­che Fischer Hafen. Im Restaurant Kamerun kann man den Fisch fangfrisch genießen.
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