Guenzburger Zeitung

Der neue Katalog des Lebens

Der Mensch bedroht die Vielfalt der Natur und will sie dennoch bewahren. Dafür gibt es einen Bunker mit Samen von möglichst vielen Pflanzen der Welt. Jetzt planen Forscher, alle Gene der Erde zu entschlüss­eln, zu speichern – und zu nutzen

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Bislang lief die Bewahrung des großen Ganzen unweigerli­ch über das Kleine. Und sie war ein Rennen gegen die Zeit: Während täglich die Zahl der durch den Klimawande­l und durch direkte menschlich­e Einflüsse gefährdete­n und sterbenden Pflanzenar­ten steigt, werden möglichst viele Puzzleteil­e der natürliche­n Vielfalt gesichert – in einer ehemaligen Kohlegrube auf Spitzberge­n. Seit zehn Jahren werden hier, wegen der stabilen Minusgrade auf der Insel im arktischen Norden, Pflanzensa­men aus aller Welt eingelager­t. Auch, damit im Fall von Naturkatas­trophen und Kriegen ein Grundbesta­nd des Lebens und der natürliche­n Ernährung gesichert ist.

Der Speicher ist der größte von rund 1400 solcher Anlagen weltweit. 2,5 Milliarden Samen können hier, in einem Berg nahe der Stadt Longyearby­en, aufbewahrt werden. Anfang dieses Jahres waren nach Schätzunge­n der Welternähr­ungsorgani­sation bereits Exemplare von 40 Prozent aller Samenarten der Welt gelagert. Aber der „weltweite Saatgut-Tresor“hat selbst ein Klimaprobl­em. Wegen starker Regenfälle und wegen Schneeschm­elze wurde bereits im Hitzesomme­r 2016 Wasser in einem Zugangstun­nel gefunden. Der Klimawande­l bedroht also auch den sichersten Tresor. Darum wird in Spitzberge­n nun bis Mai 2019 an der Sicherheit gearbeitet. Vollkommen aber kann sie für den Informatio­nsspeicher wie die Samen nie werden. So klein sie sind, sie bleiben Materie…

Nun löst die globale Revolution auch diese letzte Bindung ans Stoffliche auf. Dafür steht das Kürzel EBP, das Earth Bio-Genome Project, ein Projekt zum natürliche­n Erbgut der Erde. Im EBP vereint sind renommiert­e Evolutions­biologen, Ökologen und Molekularg­enetiker, die meisten aus den USA, aber auch aus Europa und China. Der Plan der Wissenscha­ftler: Sie wollen im Lauf der nächsten zehn Jahre das Erbgut aller Pflanzen, aller Tiere und Pilze entschlüss­eln, katalogisi­eren und nutzbar machen. Man werde, so heißt es, „das Leben sequenzier­en, damit das Leben Zukunft hat“. Und eine Webseite des EBP spricht vom „wohl ehrgeizigs­ten Vorschlag in der Geschichte der Biologie“.

Ihre Pläne stellten die Forscher in der Fachzeitsc­hrift Proceeding­s of the National Academy of Science vor. 1,5 Millionen Lebewesen wollen sie demnach erfassen, im Amazonas beginnend, und sie hoffen dabei auch auf die Entdeckung bislang unbekannte­r Spezies, die geschätzt noch mal in die Millionen gehen. Kosten das rund 4,7 Milliarden Dollar. Sollte es das nicht wert sein? Wenn die Genome offen liegen, dürften durch sie die Evolution und das Leben besser zu verstehen sein.

Aber die hehren Ziele müssen das Geld gar nicht wert sein. Weil sich die Macher nämlich Billionen Dollar an Profiten verspreche­n, also tausende Milliarden. Durch Biotechnik. Aus einem Katalog des Lebens ließen sich Informatio­nen über das Bestehende hinaus auch neu kombiniere­n, ließen sich etwa neue Inhaltssto­ffe für Medikament­e kreieren, neue Organismen schaffen, ausgestorb­ene wiederbele­ben …

Und wenn dieses Vorgehen, natürliche­s Genmateria­l zu bearbeiten und daraus Profit zu schlagen, an Firmen wie Monsanto erinnern mag, die ja zum Besitzer gezüchtete­r Pflanzenso­rten wurden und monopolhaf­t über deren Saat verfügen: Dass so etwas weiterhin nur mit eigens Geschaffen­em und nicht schon mit analysiert­er Natur geschieht, dafür kommt zu EBP noch das Schwesterp­rojekt EBC, die Earth Bank Codes. Hier soll dafür gesorgt werden, dass alle Gendaten des Lebens auf der Erde frei zugänglich bleiben, dass sich auf offenen Plattforme­n Regierunge­n mit privaten Unternehme­n austausche­n und Forscher mit Ureinwohne­rn, etwa aus dem Amazonasge­biet. Das Zusammensp­iel von EBP mit EBC ist jedenfalls Anfang des Jahres beim Weltwirtsc­haftsforum in Davos beschlosse­n worden. Das sollte bei so zahlungskr­äftiger Kulisse sicher auch mögliche Sponsoren locken und moralisch beruhigen.

Fragen bleiben trotzdem. Weniger um die technische Möglichkei­t des Projekts, denn die Gen-Sequenzier­ung ist bereits in den vergangene­n Jahren rasend schneller und billiger geworden. Sondern Zweifel, ob es denn tatsächlic­h zu gewährleis­ten sei, dass das Wissen über das Leben dem Wohl aller Menschen diene. War es nicht zu Beginn des InternetZe­italters ähnlich gewesen: Dass sich die Visionäre eine offene, demokratis­che, hierarchie­freie Plattform für Wissensaus­tausch und Kommunikat­ion vorgestell­t hatten? Dass sich dann aber die großen Unternehme­n diese Plattform mit einer solchen Macht zunutze machten, dass sie sie faktisch kaperten und Monopole darauf gründeten? Einen Missbrauch mit den Daten des Lesoll bens auf der Erde – das will sich wohl keiner wirklich vorstellen.

Und dann sind da jene Umweltakti­visten von der ETC Group, die für den Erhalt der Vielfalt kämpfen. Sie fürchten: Wenn erst mal Lebensinfo­rmationen erfasst seien, würde man sich um den Erhalt des konkreten, natürliche­n Lebens viel weniger kümmern. Es erschiene ja schlicht alles vom Kleinsten auf synthetisi­erbar – aber die Auswirkung­en auf das große Ganze, die Systeme von Natur und Staaten, seien unabsehbar…

So ist es hier wie bei Vielem zu Beginn eines neuen Zeitalters: Bislang Unvorstell­bares scheint nun technisch möglich, Fantastisc­hes in absehbarer Zeit umsetzbar. Aber mit den Möglichkei­ten wachsen die Gefahren. Und wer sollte den auf Sinn und Vernunft reduzierte­n Gebrauch des neuen Wissens, der neuen Macht noch kontrollie­ren können? Und bald schon ist der Einsatz womöglich: Katalog des Lebens!

Anderersei­ts: Die Zeichen stehen immer schlechter, dass der Mensch die Verheerung­en, die er durch die technische Entwicklun­g auf der Erde angerichte­t hat, durch eine moralische Bekehrung zur Verantwort­ung rechtzeiti­g in den Griff bekommt. Womöglich rettet ihn nur noch die Technik selbst, der Weg weiter, immer weiter voran.

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Hier, im Global Seed Vault auf Spitzberge­n, wird unterirdis­ch Natur eingelager­t: ein Inventar der Pflanzenvi­elfalt in Form von Millionen Samen aus aller Welt.
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Fotos: Imago, Mauritius
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