Eine neue Waffe gegen Migräne?
Acht Millionen Menschen leiden in Deutschland an dem Kopfschmerz, der einem das Leben zur Hölle machen kann. Bald kommt ein Mittel auf den Markt, das helfen soll. Aber es gibt auch Zweifel
Am Anfang stand ein einfacher Versuch: Bei 16 Frauen und sechs Männern, die mit Migräne-Kopfschmerzen in ihrer Notfall-Ambulanz auftauchten, entnahmen die Neurologen Lars Edvinsson und Peter Goadsby eine Probe aus der Halsvene. Sollte irgendein Stoff hinter dem rätselhaften Leiden stecken, so hatten sich die Wissenschaftler von der Lund-Universität in Schweden und vom Prince Henry Hospital im australischen Sidney überlegt, müssten sich im Blut während der Attacke doch Spuren von ihm finden. 1990 veröffentlichten sie in der Fachzeitung Annals of Neurology ihre Ergebnisse. Sie waren auf eine Substanz in verdächtigen Konzentrationen gestoßen, ein rätselhaftes Protein aus 37 Aminosäuren, erst ein paar Jahre zuvor zufällig entdeckt: Calcitonin Gene-Related Peptide, kurz CGRP. Bei einigen der Patienten spritzten Edvinsson und Goadsby ein Triptan, ein starkes Migränemedikament. Und siehe da, anschließend waren auch die erhöhten CGRPSpiegel plötzlich verschwunden.
Seitdem hat das Peptid den Medizinern keine Ruhe mehr gelassen. Viele Attacken, so fanden sie heraus, wurden durch ansteigende BlutKonzentrationen im Vorfeld angekündigt. Und spritzte man symptomlosen Migräne-Kranken den Botenstoff in die Adern, stellten sich oft innerhalb von Stunden die Schmerzen ein – Menschen, die nicht an Migräne leiden, reagierten dagegen nur mit Kopfbrummen.
Herausgefunden hat man inzwischen auch, was das CGRP im Gehirn bewirkt. Wird es in den Hirnhäuten ausgeschüttet, löst es vor Ort eine Entzündung aus und macht die Nerven überempfindlich. Gleichzeitig erweitert das Peptid die Blutgefäße. Das Pochen der Arterien kann deshalb die Betroffenen die Wände hochtreiben. Und auch an anderen Schlüsselstellen ist das Hormon an der Schmerzentstehung beteiligt: Die Migränesignale werden über den Trigeminusnerv von den Hirnhäuten an das Gehirn weitergeleitet und dabei mehrfach verschaltet. Und in diesen Relaisstationen ist ebenfalls der Botenstoff CGRP an der Schmerzverarbeitung beteiligt.
Jetzt scheint sich diese Anstrengung auch für die Patienten auszuzahlen: Vor kurzem ließ die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA das erste Medikament zu, das in diese fatale Kaskade eingreifen soll. Der Wirkstoff Erenumab soll Attacken vorbeugen, indem er den CGRP-Rezeptor blockiert. Es wird damit gerechnet, dass das europäische Pendant, die EMA, noch in diesem Jahr folgen wird. Und in der Fachzeitung JAMA Neurology kündigen Wissenschaftler den nächsten sogenannten CGRP-Antikörper an. Das künstliche Immunprotein Galcanezumab soll allerdings diesmal nicht den Rezeptor, sondern den Botenstoff selbst neutralisieren.
Die Hoffnungsträger werden sehnsüchtig erwartet: Etwa acht Millionen Deutsche leiden unter Migräne, bei jedem siebten von ihnen muss sie mit 15 monatlichen Schmerztagen oder mehr als chronisch gelten. Ein Drittel von ihnen, sagt Uwe Reuter, Leiter der Kopfschmerzambulanz der Berliner Charité, bekomme mit herkömmlichen Mitteln die Anfälle nicht in den Griff: „Für uns gilt es heute schon als erfolgreiche Therapie, wenn sich die Zahl der Kopfschmerztage wenigstens halbiert.“Reuter hat an den Zulassungsstudien mitgewirkt. Unter den Probanden, erzählt er, blieben fast alle den neuen Mitteln treu. Wenn jemand über Nebenwirkungen klagte, dann habe es sich meist um Husten, Schnupfen oder Verstopfungen gehandelt. Die neuen Mittel werden gespritzt – alle vier Wochen oder alle drei Monate.
Und dennoch, sagt Elizabeth Loder, Leiterin des Fachgebiets Kopf- am Bostoner Brigham and Women’s Hospital der Harvard Medical School, seien viele Kollegen von den Studienergebnissen enttäuscht. Vor allem in Hinblick auf die Wirksamkeit habe man von den Antikörpern eigentlich mehr erwartet. Im Schnitt eineinhalb weniger monatliche Schmerztage als bei mit Scheinmedikamenten behandelten Patienten, eine Quote von 40 bis 50 Prozent von Betroffenen mit nur noch halb so vielen Attacken – all das, sagt die Neurologin, schafften auch herkömmliche Arzneimittel.
Egal welches Mittel man zur Migräneprävention verabreiche, es wirke immer bei ein paar Patienten sehr gut, bei ein paar überhaupt nicht, und dann gebe es eben die vielen Betroffenen in der Mitte, denen sie mal mehr, mal weniger, aber stets nur in Maßen helfen.
Auch Edvinsson und Goadsby fanden das CGRP nur in sehr unterschiedlichen Konzentrationen im Blut ihrer Patienten. Damit scheinen auch die neuen Medikamente über das Hindernis zu stolpern, das den Medizinern schon bisher das Leben schwer machte: „Keine Migräne ist wie die andere, der eine klagt stärker über Übelkeit, der andere reagiert empfindlicher auf Geräusche, der Dritte erträgt während der Attacken kein Licht“, weiß Uwe Reuter aus seiner Sprechstunde. Und nicht nur die Symptome variieschmerz ren zwischen den Patienten, wahrscheinlich, sagt er, seien es auch die zugrunde liegenden Krankheitsmechanismen. Ähnliches dürfte für die Rolle des CGRPs gelten.
Es gibt noch einen weiteren Grund, zumindest bei manchen Menschen mit den neuen Rezepten zögerlich zu sein. Aktuell wisse man noch viel zu wenig über die Langzeit-Nebenwirkungen, warnt Christoph Diener, der am Universitätsklinikum Essen die Kopfschmerzforschung leitet. So sei völlig unbekannt, wie Kinder im Mutterleib auf die Antikörper reagieren, gerade bei jungen, nicht verhütenden Frauen wäre der Experte deshalb eher zurückhaltend. Ähnliches gilt für Menschen mit einem erhöhten Infarktoder Schlaganfallrisiko. Das CGRP spielt auch andernorts im Körper eine Rolle, bei einem Infarkt versucht zum Beispiel das Herz durch das Protein verzweifelt, seine verstopften Gefäße zu erweitern. Bei Menschen mit einem entzündeten Darm schützt es wahrscheinlich die Schleimhaut und auch an der Wundheilung ist es beteiligt. Bislang war in den Studien von den entsprechenden Komplikationen nichts zu sehen, im Gegenteil. Aber gerade seltene Nebenwirkungen zeigen sich oft erst bei der Anwendung in größeren Bevölkerungskreisen und nach längerer Behandlungszeit.
Die entscheidende Frage in Deutschland wird sein, wie der Gemeinsame Bundesausschuss diese Fragen beantwortet. Das Gremium
Es helfen auch Ausdauersport und Entspannungsverfahren
wird letztendlich beschließen, für wen eine Krankenkasse die Kosten übernimmt. Fast 6000 Euro verlangen die Firmen Amgen und Novartis in den Vereinigten Staaten für die Jahresdosis, das ist viel Geld. Christoph Diener vermutet, es wird in Deutschland deshalb auf ähnliche Regeln wie beim Botox hinauslaufen: Bezahlt wird die Therapie mit dem Nervengift nur solchen Migränekranken, bei denen zuvor alle anderen Arzneimittel gescheitert sind. Zudem muss es sich um schwerere Fälle handeln, mit acht oder mehr monatlichen Schmerztagen.
Langfristig, glaubt er, dürfte die Mehrzahl der Patienten ohnehin ohne die Mittel auskommen. Denn auch mit Techniken wie Ausdauersport, Entspannungsverfahren und Vermeiden von Anfall-Auslösern können seiner Erfahrung nach zwei Drittel der Menschen das Auftreten von Attacken verhindern.