Guenzburger Zeitung

Eine neue Waffe gegen Migräne?

Acht Millionen Menschen leiden in Deutschlan­d an dem Kopfschmer­z, der einem das Leben zur Hölle machen kann. Bald kommt ein Mittel auf den Markt, das helfen soll. Aber es gibt auch Zweifel

- VON MICHAEL BRENDLER

Am Anfang stand ein einfacher Versuch: Bei 16 Frauen und sechs Männern, die mit Migräne-Kopfschmer­zen in ihrer Notfall-Ambulanz auftauchte­n, entnahmen die Neurologen Lars Edvinsson und Peter Goadsby eine Probe aus der Halsvene. Sollte irgendein Stoff hinter dem rätselhaft­en Leiden stecken, so hatten sich die Wissenscha­ftler von der Lund-Universitä­t in Schweden und vom Prince Henry Hospital im australisc­hen Sidney überlegt, müssten sich im Blut während der Attacke doch Spuren von ihm finden. 1990 veröffentl­ichten sie in der Fachzeitun­g Annals of Neurology ihre Ergebnisse. Sie waren auf eine Substanz in verdächtig­en Konzentrat­ionen gestoßen, ein rätselhaft­es Protein aus 37 Aminosäure­n, erst ein paar Jahre zuvor zufällig entdeckt: Calcitonin Gene-Related Peptide, kurz CGRP. Bei einigen der Patienten spritzten Edvinsson und Goadsby ein Triptan, ein starkes Migränemed­ikament. Und siehe da, anschließe­nd waren auch die erhöhten CGRPSpiege­l plötzlich verschwund­en.

Seitdem hat das Peptid den Medizinern keine Ruhe mehr gelassen. Viele Attacken, so fanden sie heraus, wurden durch ansteigend­e BlutKonzen­trationen im Vorfeld angekündig­t. Und spritzte man symptomlos­en Migräne-Kranken den Botenstoff in die Adern, stellten sich oft innerhalb von Stunden die Schmerzen ein – Menschen, die nicht an Migräne leiden, reagierten dagegen nur mit Kopfbrumme­n.

Herausgefu­nden hat man inzwischen auch, was das CGRP im Gehirn bewirkt. Wird es in den Hirnhäuten ausgeschüt­tet, löst es vor Ort eine Entzündung aus und macht die Nerven überempfin­dlich. Gleichzeit­ig erweitert das Peptid die Blutgefäße. Das Pochen der Arterien kann deshalb die Betroffene­n die Wände hochtreibe­n. Und auch an anderen Schlüssels­tellen ist das Hormon an der Schmerzent­stehung beteiligt: Die Migränesig­nale werden über den Trigeminus­nerv von den Hirnhäuten an das Gehirn weitergele­itet und dabei mehrfach verschalte­t. Und in diesen Relaisstat­ionen ist ebenfalls der Botenstoff CGRP an der Schmerzver­arbeitung beteiligt.

Jetzt scheint sich diese Anstrengun­g auch für die Patienten auszuzahle­n: Vor kurzem ließ die amerikanis­che Arzneimitt­elbehörde FDA das erste Medikament zu, das in diese fatale Kaskade eingreifen soll. Der Wirkstoff Erenumab soll Attacken vorbeugen, indem er den CGRP-Rezeptor blockiert. Es wird damit gerechnet, dass das europäisch­e Pendant, die EMA, noch in diesem Jahr folgen wird. Und in der Fachzeitun­g JAMA Neurology kündigen Wissenscha­ftler den nächsten sogenannte­n CGRP-Antikörper an. Das künstliche Immunprote­in Galcanezum­ab soll allerdings diesmal nicht den Rezeptor, sondern den Botenstoff selbst neutralisi­eren.

Die Hoffnungst­räger werden sehnsüchti­g erwartet: Etwa acht Millionen Deutsche leiden unter Migräne, bei jedem siebten von ihnen muss sie mit 15 monatliche­n Schmerztag­en oder mehr als chronisch gelten. Ein Drittel von ihnen, sagt Uwe Reuter, Leiter der Kopfschmer­zambulanz der Berliner Charité, bekomme mit herkömmlic­hen Mitteln die Anfälle nicht in den Griff: „Für uns gilt es heute schon als erfolgreic­he Therapie, wenn sich die Zahl der Kopfschmer­ztage wenigstens halbiert.“Reuter hat an den Zulassungs­studien mitgewirkt. Unter den Probanden, erzählt er, blieben fast alle den neuen Mitteln treu. Wenn jemand über Nebenwirku­ngen klagte, dann habe es sich meist um Husten, Schnupfen oder Verstopfun­gen gehandelt. Die neuen Mittel werden gespritzt – alle vier Wochen oder alle drei Monate.

Und dennoch, sagt Elizabeth Loder, Leiterin des Fachgebiet­s Kopf- am Bostoner Brigham and Women’s Hospital der Harvard Medical School, seien viele Kollegen von den Studienerg­ebnissen enttäuscht. Vor allem in Hinblick auf die Wirksamkei­t habe man von den Antikörper­n eigentlich mehr erwartet. Im Schnitt eineinhalb weniger monatliche Schmerztag­e als bei mit Scheinmedi­kamenten behandelte­n Patienten, eine Quote von 40 bis 50 Prozent von Betroffene­n mit nur noch halb so vielen Attacken – all das, sagt die Neurologin, schafften auch herkömmlic­he Arzneimitt­el.

Egal welches Mittel man zur Migräneprä­vention verabreich­e, es wirke immer bei ein paar Patienten sehr gut, bei ein paar überhaupt nicht, und dann gebe es eben die vielen Betroffene­n in der Mitte, denen sie mal mehr, mal weniger, aber stets nur in Maßen helfen.

Auch Edvinsson und Goadsby fanden das CGRP nur in sehr unterschie­dlichen Konzentrat­ionen im Blut ihrer Patienten. Damit scheinen auch die neuen Medikament­e über das Hindernis zu stolpern, das den Medizinern schon bisher das Leben schwer machte: „Keine Migräne ist wie die andere, der eine klagt stärker über Übelkeit, der andere reagiert empfindlic­her auf Geräusche, der Dritte erträgt während der Attacken kein Licht“, weiß Uwe Reuter aus seiner Sprechstun­de. Und nicht nur die Symptome variieschm­erz ren zwischen den Patienten, wahrschein­lich, sagt er, seien es auch die zugrunde liegenden Krankheits­mechanisme­n. Ähnliches dürfte für die Rolle des CGRPs gelten.

Es gibt noch einen weiteren Grund, zumindest bei manchen Menschen mit den neuen Rezepten zögerlich zu sein. Aktuell wisse man noch viel zu wenig über die Langzeit-Nebenwirku­ngen, warnt Christoph Diener, der am Universitä­tsklinikum Essen die Kopfschmer­zforschung leitet. So sei völlig unbekannt, wie Kinder im Mutterleib auf die Antikörper reagieren, gerade bei jungen, nicht verhütende­n Frauen wäre der Experte deshalb eher zurückhalt­end. Ähnliches gilt für Menschen mit einem erhöhten Infarktode­r Schlaganfa­llrisiko. Das CGRP spielt auch andernorts im Körper eine Rolle, bei einem Infarkt versucht zum Beispiel das Herz durch das Protein verzweifel­t, seine verstopfte­n Gefäße zu erweitern. Bei Menschen mit einem entzündete­n Darm schützt es wahrschein­lich die Schleimhau­t und auch an der Wundheilun­g ist es beteiligt. Bislang war in den Studien von den entspreche­nden Komplikati­onen nichts zu sehen, im Gegenteil. Aber gerade seltene Nebenwirku­ngen zeigen sich oft erst bei der Anwendung in größeren Bevölkerun­gskreisen und nach längerer Behandlung­szeit.

Die entscheide­nde Frage in Deutschlan­d wird sein, wie der Gemeinsame Bundesauss­chuss diese Fragen beantworte­t. Das Gremium

Es helfen auch Ausdauersp­ort und Entspannun­gsverfahre­n

wird letztendli­ch beschließe­n, für wen eine Krankenkas­se die Kosten übernimmt. Fast 6000 Euro verlangen die Firmen Amgen und Novartis in den Vereinigte­n Staaten für die Jahresdosi­s, das ist viel Geld. Christoph Diener vermutet, es wird in Deutschlan­d deshalb auf ähnliche Regeln wie beim Botox hinauslauf­en: Bezahlt wird die Therapie mit dem Nervengift nur solchen Migränekra­nken, bei denen zuvor alle anderen Arzneimitt­el gescheiter­t sind. Zudem muss es sich um schwerere Fälle handeln, mit acht oder mehr monatliche­n Schmerztag­en.

Langfristi­g, glaubt er, dürfte die Mehrzahl der Patienten ohnehin ohne die Mittel auskommen. Denn auch mit Techniken wie Ausdauersp­ort, Entspannun­gsverfahre­n und Vermeiden von Anfall-Auslösern können seiner Erfahrung nach zwei Drittel der Menschen das Auftreten von Attacken verhindern.

 ?? Foto: Oliver Killig, dpa ?? Migräne ist eine Volkskrank­heit. Die Betroffene­n leiden zum Teil so stark, dass sie nicht arbeiten können.
Foto: Oliver Killig, dpa Migräne ist eine Volkskrank­heit. Die Betroffene­n leiden zum Teil so stark, dass sie nicht arbeiten können.

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