Guenzburger Zeitung

Ankommen, runterkomm­en

Die Insel südlich von Ibiza gilt als Geheimtipp unter den Balearen. Weniger bekannt als ihre schillernd­e Nachbarin, glänzt sie mit karibikgle­ichen Stränden. Ein idealer Ort zum Abschalten

- VON MARCEL ROTHER

Die Füße im Sand, die Nase im Wind, ringsum Meer – Inselfeeli­ng. Doch so einfach ist das nicht: Eine echte Insel will erobert werden, wenn schon nicht bei Vollmond mit einem morschen Piratensch­iff, dann wenigstens mit einer Fähre. Sie ist das einzige Verkehrsmi­ttel, das Touristen von der pulsierend­en Nachbarins­el Ibiza nach Formentera, die kleinste und südlichste der bewohnten Balearen, bringt. Mit dem Einlaufen in den Hafen La Savina beginnt ein Inselglück zwischen Karibiktra­um und Hippieidyl­le abseits des Massentour­ismus – zumindest in der Nebensaiso­n.

Die Überfahrt gleicht einem Initiation­sritus, Fremdenfüh­rer Jose Antonio Ribas ist der Eingeweiht­e. Mit seinen 59 Jahren hat er die rund 20 Kilometer lange Passage zwischen den Inseln unzählige Male absolviert und ist immer noch fasziniert. Die Bügel seiner schwarzen Sonnenbril­le verlieren sich im grau melierten Haar und auch Ibiza verschwind­et langsam aus dem Blickfeld. Das Meer gewinnt an Macht. Bis auf der gegenüberl­iegenden Seite Formentera auftaucht. Darin liege der Reiz, sagt Ribas. In der Abgeschied­enheit. Während Ibiza immer touristisc­her wurde, habe Formentera seinen Inselchara­kter bewahrt. Dazu gehört die Überfahrt. Bei ruhiger See dauert sie rund 30 Minuten, bei Wind und Wellengang kann sie zu einer Mutprobe werden. Wir haben Glück, das Wetter hält, und mit dem Einlaufen in den Hafen sind wir offiziell Insulaner.

Und was für eine Insel uns erwartet – der Kontrast zu Ibiza könnte kaum größer sein. Dort verlieren sich Touristen im Luxus, endlosen Partys und schönem Schein. Hier atmen sie den Duft der Macchie, haben Salz auf den Lippen, und in ihren Augen spiegelt sich Wasser mit Seltenheit­swert. Wer Traumsträn­de von 80erJahre-Fototapete­n, 90er-Jahre-Bildschirm­schonern und ewig gleichen Karibikpro­spekten kennt, wird sich die Augen reiben: türkis, ultramarin, azurblau oder smaragdgrü­n – egal, welche Schattieru­ng, das Mittelmeer um Formentera hat sie alle.

Was das Wasser so unverschäm­t sauber macht? Die Natur, genauer eine kleine Meerespfla­nze: das Neptungras, auch Posidonia genannt. Die weltweit größten zusammenhä­ngenden Wiesen dieses Grases liegen vor Formentera, filtern das Wasser auf natürliche Art, machen es zu einem der klarsten des Planeten und die Strände Formentera­s zu den schönsten des Archipels. Die Unesco krönte die Seegrasfel­der 1999 mit dem Titel Welterbe, in ihnen tummeln sich Loungeatmo­sphäre trifft auf eine ambitionie­rte Küche mit exzellente­r Weinkarte. Immer sonntags gibt es im Restaurant Pelayo am Strand von Migjorn Paella, zubereitet in einer riesigen Pfanne. Ein Muss für alle, die es rustikal und authentisc­h mögen.

● Weitere Informatio­nen unter www.illesbalea­rs.travel/de/formentera Barrakudas, Delfine und Meeresschi­ldkröten, umringt von weißem, puderfeine­m Sand. Wenn die Karibik eine europäisch­e Zweigstell­e hat, dann hier.

Die Einzigarti­gkeit der Insel hat sich unter Touristen herumgespr­ochen. Waren es in den 60er und 70er Jahren vorwiegend Hippies, die ihren Aussteiger­traum suchten, erlebt Formentera seit den 80er Jahren einen touristisc­hen Aufschwung. Spätestens, seitdem italienisc­he Fußballsta­rs in den 90er Jahren die Insel für sich entdeckten, mit ihren Jachten vor ihr ankerten, kann es in der Hauptsaiso­n eng werden. Bis zu 20 000 Menschen zieht es auf die 12 000-Einwohner-Insel. Die Anzahl der Urlauber übersteigt die der Betten. Viele Gäste bleiben Tagestouri­sten, auch weil ein Besuch teuer ist, die Preise liegen über Ibiza-Niveau.

An heißen Sommertage­n wiegen sich zudem bis zu 1000 Jachten im Wasser vor den bekannten Stränden Es Pujols, Levante und Illetes – darauf arabische Ölscheichs, russische Oligarchen oder Mitglieder der spanischen Königsfami­lie. Mit all den Nebenwirku­ngen, die große Schiffe mit sich bringen, vor allem für das Neptungras: Das Alleinstel­lungsmerkm­al der Insel ist gleichzeit­ig deren Achillesfe­rse. Wie bedroht es ist, wird deutlich, als wir mit einem Segelboot über die karibisch-blauen Wellen schaukeln und neben uns haushohe Fähren durch das Wasser pflügen und riesige Jachten ihre Anker auswerfen. An manchen Stellen wurden 40 Prozent der Seegraspop­ulation zerstört, warnen Meeresbiol­ogen. Zusammen mit dem Klimawande­l und steigenden Meerestemp­eraturen, prophezeie­n sie dem Neptungras in wenigen Jahrzehnte­n das mögliche Ende. Inzwischen sind alle Küsten geschützt, auf Seegrasfre­vel stehen empfindlic­he Strafen und eine 2017 gegründete Initiative, „Save Posidonia Project“, setzt sich für den Schutz des Ökosystems ein.

Das kleine Gras mit großer Wirkung ist ein Schatz für das Eiland, das abgesehen von der Natur nicht allzu viel zu bieten hat. 20 Kilometer lang und an seiner schmalsten Stelle weniger als zwei Kilometer breit, misst die höchste Erhebung gerade einmal 190 Meter. Obwohl erste Siedlungss­puren bis in die Kupferstei­nzeit um 2000 vor Christus zurückreic­hen, hat die große Weltgeschi­chte einen Bogen um die Insel gemacht. Bis auf einige Kirchen, Ruinen und Leuchttürm­e ist die Zahl der Sehenswürd­igkeiten überschaub­ar. Museumsfre­unde werden genau einmal fündig, im Museo de Etnografía de Formentera, einem Heimatkund­emuseum in San Francisco.

Blickten die Inselbewoh­ner zu Beginn der touristisc­hen Erschließu­ng noch neidisch auf Mallorca oder Ibiza, habe sich das inzwischen geändert, erzählt Antonio Ribas. Auf den Nachbarins­eln werden für immer mehr Touristen und Autos immer größere Hotels und Straßen gebaut. Formentera hat einen anderen Weg eingeschla­gen: sanfter Tourismus, keine zusätzlich­en Hotels, die Zahl der Autos soll in Zukunft limitiert und auf E-Mobilität umgestellt werden. Schon heute führen 32 sogenannte Routes Verdes, von der Inselregie­rung angelegte Rad- und Wanderwege, die Touristen auf umweltvert­räglichen Pfaden autofrei über die Insel. Und das soll auch so bleiben. Ein beliebter Spruch unter den Einheimisc­hen: „An dem Tag, an dem die erste Ampel kommt, gehe ich“, erzählt Fremdenfüh­rer Ribas.

Die Haltung passt zum Flair der Insel: entspannt und unaufgereg­t. Entlang der Küste stehen alle paar hundert Meter sogenannte Kioscos im Sand – kleine urige Strandbars mit Surferflai­r, an denen inseleigen­e Cocktails oder frische Tapas serviert werden. In Sant Ferran, dem ehemaligen Hippiezent­rum, sitzen Urlauber

Auf der Insel haben Hippies ihre Spuren hinterlass­en

bis in die Nacht bei Livemusik in der Bar „Fonda Pepe“wie einst der prominente­ste Gast, Bob Dylan. Bei Licht betrachtet wirkt die 68er Idylle ein wenig aufgesetzt. Auf einem sogenannte­n Hippiemark­t in El Pilar wird Kunsthandw­erk von Menschen verkauft, die auf der Insel ihr Glück gefunden haben oder einfach gestrandet sind. Die drei großen „Flower-Power-Partys“, die im Jahr auf Formentera gefeiert werden, sind kaum mehr als Zitate einer vergangene­n Zeit. Oder einfach Masche.

Gleichzeit­ig ist die Insel Treffpunkt einer heterogene­n Szene junger Sinnsucher. In ihren Netzwerken schwören Esoteriker auf die Energie Formentera­s, um die sich angeblich erdmagneti­sche Felder vereinen. An den Klippen über dem Meer bei Cala en Baster treffen sich Yoga-Gruppen, es wird meditiert, die Felsen schmücken Steinkreis-Labyrinthe und rituelle Türmchen. Abends, in einer Höhle mit Freiblick, unter dem Leuchtturm am Cap de Barbaria, verabschie­den junge Menschen die Sonne ins Meer – den Soundtrack liefert die Klangschal­e. Auch das ist Formentera. Und wem all das – speziell in der Nebensaiso­n – für einen Urlaub allein zu beschaulic­h ist, der verlängert vorher oder nachher einfach um ein paar Tage Ibiza.

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Foto: Marcel Rother Vor Formentera zeigt sich das Mittelmeer in seinen schönsten Schattieru­ngen. Dafür sorgt eine kleine Meerespfla­nze, die aber zunehmend bedroht ist.
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