Guenzburger Zeitung

Bohrende Fragen an Kretschmer

Für den sächsische­n Ministerpr­äsidenten wird der Fall Chemnitz zur ernsten Krise. Über Motive des tödlichen Messerangr­iffs ist nach wie vor kaum etwas bekannt

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Leipzig Gut ein Jahr vor der Landtagswa­hl in Sachsen ist nur eines sicher – dass nichts sicher ist. Die Ausschreit­ungen von Chemnitz nach einer tödlichen Messeratta­cke tatverdäch­tiger Migranten und die anhaltende Hetze gegen Ausländer haben den Druck auf den Freistaat und seinen Ministerpr­äsidenten Michael Kretschmer (CDU) in den vergangene­n Tagen mächtig erhöht. Personelle Konsequenz­en sind allerdings momentan kaum zu erwarten und machen für die Partei auch keinen Sinn. Kretschmer ist erst etwas mehr als neun Monate im Amt – ein neuerliche­r Führungswe­chsel zum jetzigen Zeitpunkt würde der Sachsen-CDU wohl den Rest geben.

Kretschmer besuchte Chemnitz am Donnerstag zum ersten Mal nach den Vorfällen der vergangene­n Tage und rief zum Vertrauen in die staatliche Ordnung auf. „Es kommt nun darauf an, mit Ruhe und Besonnenhe­it Recht und Ordnung konsequent durchzuset­zen. Wir werden nicht dulden, dass Chaoten und gewaltbere­ite und rechte Gewalttäte­r die Straßen erobern“, erklärte der Minister zum Auftakt eines schon länger geplanten Bürgerdial­ogs. Gleichzeit­ig versammelt­en sich laut Behördenan­gaben rund 900 Men- schen bei einer Protestkun­dgebung der rechtspopu­listischen Bewegung Pro Chemnitz in der Stadt. Die Polizei sprach zwischenze­itlich von einer „angespannt­en Lage“.

Unterdesse­n wurden die Ermittler auf der Suche nach der undichten Stelle bei den Behörden fündig: Den im Internet veröffentl­ichten Haftbefehl eines mutmaßlich­en Täters der Messeratta­cke hat offensicht­lich ein Dresdner Justizvoll­zugsbedien­steter weitergege­ben. Der Mann sei mit sofortiger Wirkung vom Dienst suspendier­t worden, teilte das sächsische Justizmini­sterium am Donnerstag mit. Des Weiteren soll der Bremer Bürgerscha­ftsabgeord­nete Jan Timke das Dokument rechtswidr­ig auf Facebook weiterverb­reitet haben.

„Wir haben einen Hinweis bekommen“, sagte Oberstaats­anwalt Frank Passade in Bremen. Timke ist Bundespoli­zist und Mitglied der rechten Wählervere­inigung „Bürger in Wut“. Sein Dienstverh­ältnis bei der Bundespoli­zei ruht, solange er in der Bürgerscha­ft sitzt. Die Er- mittler durchsucht­en nach Angaben der Staatsanwa­ltschaft bereits am Mittwoch die Wohnung des Mannes in Bremerhave­n. Timke habe den Haftbefehl inzwischen von seiner Facebook-Seite entfernt, sagte Passade. In Dresden ermittelt die Staatsanwa­ltschaft wegen Verletzung von Dienstgehe­imnissen. Das teilweise geschwärzt­e Dokument wurde unter anderem auf Internetse­iten von Pro Chemnitz, einem Kreisverba­nd der AfD sowie des Pegida-Gründers Lutz Bachmann, verbreitet.

Bei dem Messerangr­iff am Sonntag starb ein 35-jähriger Deutscher, zwei 33- und 38-Jährige wurden zum Teil schwer verletzt. Mittlerwei­le wurde einer der Männer aus dem Krankenhau­s entlassen. Der dritte Geschädigt­e befinde sich noch in stationäre­r Behandlung, schwebe aber nicht in Lebensgefa­hr, teilte die Staatsanwa­ltschaft mit.

Mit Details zu den Hintergrün­den der Gewalttat hält sich die Anklagebeh­örde weiter bedeckt. Sie machte am Donnerstag auf Anfrage keine Angaben zum Tatmotiv und ging auch nicht auf Medienberi­chte ein, wonach der Messeratta­cke am Sonntagmor­gen entweder ein Streit um Zigaretten oder ein versuchter EC-Karten-Raub vorausgega­ngen sei. Die Polizei hatte von einer verbalen Auseinande­rsetzung berichtet.

Als Tatverdäch­tige sitzen ein Iraker und ein Syrer in Untersuchu­ngshaft. Nach der Tat zogen überwiegen­d rechte Demonstran­ten durch die Stadt und hetzten gegen Ausländer, einige wurden sogar angegriffe­n. Die rechtsextr­emen und ausländerf­eindlichen Übergriffe stießen bundesweit und internatio­nal auf Ablehnung. Die sächsische Polizei geriet in die Kritik, weil sie das Ausmaß des Protestes unterschät­zt und zu wenig Personal zu Demonstrat­ionen geschickt hatte.

Der Vizepräsid­ent des Internatio­nalen Auschwitz Komitees, Christoph Heubner, kommentier­te, Auschwitz-Überlebend­e in aller Welt empfänden „die rechtsextr­emen Entwicklun­gen in Chemnitz als dramatisch“. Mit wachsender Sorge beobachtet­en die Überlebend­en des Holocausts den Versuch rechtsextr­emer Gruppierun­gen, die Macht der Straße an sich zu reißen und den Hass in die Städte zu tragen. Man sei sich nicht mehr sicher, ob allen politisch Verantwort­lichen und den Bürgern der Ernst der Lage bewusst sei, hieß es.

Justizange­stellter fotografie­rte Haftbefehl

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Foto: Sebastian Willnow, dpa Hat sich der sächsische Ministerpr­äsident zu viel Zeit gelassen? Vier Tage nach dem gewaltsame­n Tod eines 35 Jährigen und anschließe­nden Demonstrat­ionen mit Übergriffe­n auf Ausländer besucht Ministerpr­äsident Michael Kretschmer (CDU) Chemnitz.

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