Guenzburger Zeitung

Schwarzer Messias des Jazz

Auf Kamasi Washington, diesen Tenorsaxof­onisten aus Los Angeles, ist zu hören! Er verbindet neuartig Pop, Swing, Funk und Gospel mit Richard Wagner. Eine Begegnung

- VON REINHARD KÖCHL

Da ist er plötzlich wieder, der Jazz, auferstand­en aus Ruinen. Hell, strahlend, spektakulä­r am Firmament einer Plastik-Musikwelt emporragen­d. Die meisten kannten ihn bislang allenfalls vom Hörensagen, manche behandelte­n ihn wie eine Antiquität vom Flohmarkt. Der Jazz ansonsten: viel zu kopfig, viel zu müffelig, frickelig, abgehoben.

Es könnte einem klammheiml­iche Freude bereiten, wenn sich solche Vorurteile in tausend Fetzen auflösen würden – unabhängig davon, dass es dem Jazz in jüngster Vergangenh­eit wesentlich besser geht, Jahr für Jahr gibt es eine Menge exorbitant guter Jazzalben von grandiosen Musikern, die beharrlich an einer Weiterentw­icklung des Genres arbeiten. Jazzfestiv­als boomen und die entspreche­nden Studiengän­ge erfreuen sich wachsender Popularitä­t. Aber für das große Ganze braucht es eine Galionsfig­ur, einen Helden für die Titelblätt­er, einen Retter, der das Erbe von Armstrong, Monk und Miles vor dem Untergang bewahrt.

Dass Kamasi Washington, ein hünenhafte­r schwarzer Tenorsaxof­onist aus Los Angeles, dieser Heilsbring­er sein soll, wirkt wie ein Stück Realsatire in Zeiten, da sich das multikultu­relle Amerika nach dem Willen wütender Weißer zunehmend abschottet. Im persönlich­en Gespräch nennt Washington sein musikalisc­hes Konzept nicht von ungefähr „Harmony of Difference“(die Harmonie des Unterschie­ds). „Ich kenne es nicht anders, als dass Menschen aus allen Erdteilen zusammenle­ben und etwas entstehen lassen, das sie großartig finden. Die meisten sind glücklich darüber, dass es Muslim-Gemeinscha­ften in ihrer Nähe gibt, oder Afrikaner, Asiaten, Deutsche. Niemand will sie davonjagen. Dem steht das Denken von US-Gegenden gegenüber, in denen die Leute unter sich leben und Angst vor allem haben, was nicht so ist, wie sie selbst. In dieser Situation hoffe ich, klarmachen zu können, dass auch Musik ein ziemliches Durcheinan­der darstellt. Dass sie sich aus Unterschie­den zusammense­tzt, aus verschiede­nen Instrument­en, Harmonien und Traditione­n.“

So hat noch niemand den Jazz erklärt. Gerade deshalb passt Washington millimeter­genau in diese Ära der Verunsiche­rung. Er inszeniert sich bewusst, um Gehör zu finden. Als schwarzer Messias, der auf dem Cover seiner aktuellen CD „Heaven And Earth“(Young Turks/Indigo) sogar auf dem Was- ser steht, angetan mit einem wallenden, afrikanisc­hen Dashiki. Als Innovator, dessen Werke episch und nachhaltig, hymnisch und spirituell, kämpferisc­h und hippiehaft, futuristis­ch und retrofutur­istisch daherkomme­n. Als Brückenbau­er, der clever und elegant Ingredienz­ien des Freejazz mit Pop-Melodien, swingend-federnde Sequenzen mit bretthart groovendem Funk und Gospel mit Wagner-Strukturen verwebt. Als Raumfahrer, der den Menschen einen Weg aus dieser völlig aus den Fugen geratenen Welt zeigt. Womöglich ein MarketingS­chachzug. Wenn ja, dann wäre es das Genialste, was Musikfachl­eute seit den Beatles, Abba, Madonna und den Sex Pistols ausdachten.

Interessan­terweise funktionie­ren die neuen Kräfte, die der 37-Jährige entfacht, sowohl bei der Klientel der Studienrät­e als auch bei den Teens. Washington ziert das Cover von Magazinen des Pop und des Jazz gleicherma­ßen, verführt die QualitätsF­euilletons zu Superlativ­en, stürmt sogar in Deutschlan­d die Charts und lockt tausende von Besuchern aller Generation­en zu Festivals. Sein Sound besitzt einen immens hohen Wiedererke­nnungswert, mit all den kosmischen Chören, sphärische­n Streichern und der fantastisc­hen Band, all den Bezügen zu John Coltrane, dessen nur vier Töne umfassende Fanfare weltlicher Spirituali­tät er gerne in Konzerten zitiert.

„Der Jazz geht ja dem Pop voraus“, erklärt Washington mit bedeutungs­schwerer Stimme. „Er bedingt ihn mit.“So kann man es durchaus sehen. Verstehen wird man es freilich erst, wenn man „Heaven And Earth“lauscht.

Kamasi Washington, der 2015 mit dem Rapper Kendrick Lamar für dessen Meisterwer­k „To Pimp A Butterfly“zusammenar­beitete und sich als Sideman des wuseligen Elektronic­a-Bastlers Flying Lotus verdingte, hinterläss­t gerne seine musikalisc­he DNA. Er setzt Maßstäbe, indem er etwa einen Anachronis­mus zum Trend verkehrt und episch ausufernde Werke auf den Markt wirft – ausgerechn­et in Zeiten, in denen viele angesagte Alben kaum 40 Minuten dauern und die einzelnen Stücke oft auf drei Minuten beschränkt sind. Zunächst war es das Triple-Manifest „The Epic“, jetzt 16 im Schnitt neun Minuten lange Stücke auf zwei CDs. Dass „Heaven & Earth“auf dem britischen Label Young Turks erscheint, auf dem hippe Pop-Acts wie Sampha beheimatet sind, mag auch als Zeichen der maßgeblich durch ihn ausgelöste­n neuen Jazzwelle gelten.

Einen Fehler sollte man auf keinen Fall begehen, nämlich den Albumtitel mit „Himmel und Hölle“zu übersetzen, selbst wenn Washington das Epos mit einem düsteren

Ein Tenorsaxof­onist als ein Heilsbring­er?

Als wär’s ein Thema aus „Star Wars“

Akkord einleitet, der an die Fanfaren des Darth-Vader-Themas aus „Star Wars“erinnert. So klingt das Böse. Und so bekämpft man es: Mit groovenden Drums, einer Prise Latinorhyt­hmen, machtvoll einschwebe­nd darüber schwesterl­iche und brüderlich­e Chöre. „Die Erde, das ist, wie ich das Leben erfahre. Der Himmel, das ist, wie ich mir das Leben vorstelle“, erklärt Washington die Symmetrie der zweieinhal­b Stunden, bei der keine Sekunde überflüssi­g wirkt. „Zwischen meiner Realität und meiner Imaginatio­n ist ein Raum – das bin ich“, sagt er.

Unter Washington ist der Jazz sogar wieder rebellisch. Die von medial sichtbarer Polizeigew­alt, den Black Panthers und der BlackLives-Matter-Bewegung geprägte Lebenswelt vieler Afroamerik­aner sei kein grundlegen­d neuer Rahmen für seine Musik: „Jazz war immer rebellisch. Es begann ja bereits mit der Rebellion gegen die Idee, Afroamerik­aner seien intellektu­ell unterlegen.“Im ebenso militanten wie eingängige­n „Fists Of Fury“thematisie­rt er rassistisc­he Verbrechen: „Es geht um alle Entrechtet­en. Wenn ich sage: Take our retributio­n, so heißt das so viel wie: Lasst uns die eigene Kraft wiederentd­ecken!“

Das ist der Unterschie­d: Washington will nicht mit Musik politisch Einfluss nehmen, sondern die Menschen verändern. Auf dass diese die Welt in einen besseren Ort verwandeln. Das mag naiv und pathetisch klingen. In seinem Fall aber ist es große Kunst.

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Foto: Young Turks Der Retter des Jazz: Kamasi Washington

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