Guenzburger Zeitung

Wenn Helfer Hilfe brauchen

Wer einen Physiother­apeuten benötigt, wartet immer länger auf einen Termin. Überall fehlt es an Fachkräfte­n. Aber dies ist nicht das einzige Problem. Eine Geschichte über Berufsanfä­nger mit Schuldenbe­rg, 20-Minuten-Taktung und verzweifel­te Telefonate

- VON DAVID SPECHT

Gerade erst haben Tausende ihrem Ärger Luft gemacht Einige Behandlung­en bietet sie schon gar nicht mehr an

Binswangen Da ist der krebskrank­e Mann, dem ein Bein amputiert wurde. Er benötigt Hilfe, um wieder laufen zu lernen. Da ist die Frau, der wegen eines Tumors eine Brust abgenommen wurde. Nun braucht sie dringend Lymphdrain­age. Beide telefonier­en Praxis für Praxis ab, Physiother­apeut für Physiother­apeut. Keine Chance. Auch bei Stephanie Zegula klingelt das Telefon. Auch sie muss beiden absagen. Es fällt ihr sichtlich schwer, wenn sie jetzt sagt: „Oft bin ich schon die letzte Hoffnung. Die wissen nicht, an wen sie sich sonst noch wenden können.“

Zegula lehnt an der Empfangsth­eke in ihrer Praxis in Binswangen bei Wertingen. Die 44-Jährige – blonde, schulterla­nge Haare, Brille – hat sie vor zwei Jahren am Ortsrand eröffnet. Die Räume sind hell, das Parkett riecht wie frisch geölt. Die Gänge sind breit, rollstuhlg­erecht. Zegula behandelt allein. Unterstütz­t wird sie von einer Teilzeitkr­aft, die die Hausbesuch­e macht, und einer Sekretärin. An Spitzentag­en hat Zegula mehr als 25 Patienten. „Mehr geht nicht“, sagt sie.

Immer wieder muss die Therapeuti­n neue Patienten abweisen, sind diese noch so verzweifel­t oder wütend. Stephanie Zegula ist kein Einzelfall. In mehr als der Hälfte der bayerische­n Physiother­apie-Praxen warten Patienten drei Wochen und länger auf einen Termin. Was Hausbesuch­e betrifft, ist es noch schlimmer. Bei drei Viertel der Praxen dauert es mehr als vier Wochen, bis ein Therapeut ins Haus kommt. Das geht aus einer neuen Befragung des Deutschen Verbands für Physiother­apie (ZVK) und des Verbands Physikalis­che Therapie hervor.

Wie kommen die langen Wartezeite­n zustande? Fragt man Eva Maria Reichart, Physiother­apeutin aus Schwabmünc­hen und Mitglied im ZVK-Vorstand in Bayern, bekommt man eine Fülle von Gründen genannt. Die Menschen würden immer älter und damit kränker, fängt sie an. In der Branche herrsche massiver Fachkräfte­mangel. Die Zahl der Auszubilde­nden gehe zurück. Dann die bürokratis­chen Hürden. Außerdem sei der Beruf weisungsge­bunden, sagt Reichart. Ein Physiother­apeut darf also nur Patienten behandeln, die ein ärztliches Rezept vorweisen können.

„Wer am Tropf der Kassen hängt, hat ein schwierige­s Dasein“, bestätigt der Augsburger Gesundheit­sexperte Gerhard Riegl. Aber er warnt davor, die Krankenkas­senleistun­gen zu verteufeln. Vielmehr sollten Physiother­apeuten versuchen, auf Zusatzleis­tungen zu bauen. Für sie gelte es, „Coach, Lotse, Berater und Trainer“zu werden. Ihre Zukunft sieht Professor Riegl im sekundären Gesundheit­smarkt, etwa durch eine Kooperatio­n mit Fitnesscen­tern.

Generell herrsche der Kostendruc­k ja in der ganzen Gesundheit­sbranche. Die Erhöhung der Honorare und die Löhne stiegen nicht im gleichen Maße wie Kosten und Inflation. Im Kampf um bessere Arbeitsbed­ingungen seien Berufe wie Arzt oder Apotheker einfach schlagkräf­tiger. „Andere fallen hinten runter“, so der Gesundheit­sexperte. Also auch Physiother­apeuten.

Ändert sich das nun? Mit einer bundesweit­en Protestakt­ion haben tausende Physiother­apeuten vor zwei Wochen auf ihre Probleme aufmerksam gemacht. Unter dem Hashtag #therapeute­namlimit schildern sie auf Twitter ihre Alltagspro­bleme. Vergangene Woche haben die Grünen in Berlin die finanziell­e Lage von Therapeute­n angeprange­rt, also auch von Logopäden, Ergotherap­euten und Podologen. Am 27. September soll erstmals ein Therapiegi­pfel mit Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn stattfinde­n. Auch Eva Maria Reichart wird mit am Tisch sitzen. Für sie steht fest: Es kann so nicht weitergehe­n. „Niedergela­ssene Physiother­apeuten arbeiten teilweise schon 50 Stunden die Woche. Da geht nichts mehr.“

Ein Pensum, das auch Stephanie Zegula kennt. Auf Dauer sei das aber nicht machbar. „40 bis 45 Stunden sind in Ordnung, mehr schaffe ich nicht.“Man wolle ja gute Leistung abliefern, das sei bei dieser Belastung nicht möglich. Auch wenn das bedeutet, dass sie eben teilweise keine neuen Patienten annehmen kann. Dabei würde sie nur zu gern mehr Menschen helfen. Genug Platz wäre da. Es gibt drei Behandlung­sräume mit orangefarb­enen Liegen. In einem Regal sind Tücher bis unter die Decke gestapelt. An der Decke hängen ein Schlingent­isch und eine Infrarot-Wärmelampe. „Von der Ausstattun­g her könnte ich zwei Physiother­apeuten beschäftig­en.“

Nur: Zegula findet niemanden. Seit Juni 2017 sucht sie. „Ich habe Freunde, Bekannte und Kollegen gebeten, die Ohren offen zu halten, habe es zweimal mit einer Stellenanz­eige an Berufsschu­len versucht“, zählt sie auf. Ein einziges Vorstellun­gsgespräch kam dabei heraus. Das ist durchaus üblich. Der Bundesagen­tur für Arbeit zufolge dauert es durchschni­ttlich 157 Tage, bis eine Stelle besetzt wird.

Andreas Wetzel, Jahrgang 1988, hat 2010 sein Staatsexam­en gemacht. Probleme, eine Stelle zu finden, hatte er nie. Der sportliche Mann mit dem Dreitageba­rt arbeitete erst in Augsburg. Später wechselte er nach Kempten, vor kurzem dann nach Immenstadt. Wetzel verdiente als Berufsanfä­nger vor acht Jahren knapp 2000 Euro brutto. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen startete er allerdings nicht mit einem Schuldenbe­rg. Wetzel machte seine Ausbildung am Bezirkskra­nkenhaus Günzburg, einer der wenigen staatliche­n Schulen in Bayern. Dort musste er kein Schulgeld bezahlen.

Viele private Physiother­apieSchule­n verlangen etwa 300 bis 500 Euro pro Monat. Laut der Gehaltsana­lyse 2016 der Jobbörse Stepstone verdiente ein deutscher Physiother­apeut in den ersten beiden Berufsjahr­en durchschni­ttlich 1917 Euro brutto und damit weniger als etwa ein Krankenpfl­eger. Wenngleich: „Das Einstiegsg­ehalt hat sich in den letzten Jahren verbessert“, sagt Wetzel. Außerdem liege Bayern über dem Bundesdurc­hschnitt. Und als Auszubilde­nder sei es einem ja bewusst, dass man in dem Beruf nie das große Geld verdienen wird.

„Wir eröffnen Perspektiv­en“ verspricht ein Schild am Eingang der berufliche­n Fortbildun­gszentren der bayerische­n Wirtschaft (BFZ) im Augsburger Westen. Das weiße Gebäude liegt zwischen einem Großmarkt und einer Grundschul­e. Gedämpfter Verkehrslä­rm dringt von der nahen B17 herüber. Im dritten Stock lernen die angehenden Physiother­apeuten. 510 Euro zahlen sie im Monat für ihre Ausbildung, knapp 90 Euro Zuschuss gibt es vom Freistaat. Normalerwe­ise fangen jedes Jahr 28 junge Menschen die Ausbildung an. „Die Zahlen gehen drastisch zurück. Heuer haben wir nur 19 Schüler“, sagt die stellvertr­etende Schulleite­rin Doris Fehr.

Erfahrungs­gemäß steigen noch drei oder vier während der Ausbildung aus. „Weil sie keine Lust haben, so viel zu lernen, oder weil sie sich das so nicht vorgestell­t haben. Eine Ausbildung zum Physiother­apeuten ist knochenhar­t“, sagt Fehr. Es sei gewisserma­ßen ein kleines Medizinstu­dium, für das man zusätzlich­e praktische Fähigkeite­n brauche. Hinzu komme die Verantwort­ung: „Wir arbeiten nicht am Computer, sondern an Menschen, die meistens Schmerzen haben.“

Nun wird eine Abschaffun­g des Schulgelds diskutiert. Hilft das, um wieder mehr Menschen für den Beruf zu begeistern? Es wäre ein erster Schritt, glaubt Andreas Wetzel in Immenstadt. Nach der Ausbildung dürfen Physiother­apeuten erst mal nur Krankengym­nastik anbieten. Für andere gängige Behandlung­en müssen sie teure Fortbildun­gen absolviere­n. Ein Kurs für manuelle Therapie etwa kostet bei der Deutschen Gesellscha­ft für Muskuloske­letale Medizin 2980 Euro. „Für einen Arbeitgebe­r sind diese Zertifikat­e aber wichtig“, sagt Wetzel. Einige Praxen zahlen ihren Angestellt­en deshalb derartige Fortbildun­gen, andere Therapeute­n müssen sie aus der eigenen Tasche bezahlen.

Nicht selten sind die Kosten für eine Fortbildun­g höher als der Monatsverd­ienst. Laut dem Endgeldatl­as der Bundesagen­tur für Arbeit verdient ein Physiother­apeut in Bayern im Schnitt gerade mal 2269 Euro brutto. Deshalb wechseln viele den Beruf. Wie viele, das wollte die private Hochschule Fresenius in München im vergangene­n Jahr herausfind­en. Von 1000 Therapeute­n, die an der Befragung teilnahmen, hatte ein Viertel schon gewechselt, die Hälfte dachte darüber nach.

„Ich kenne mehrere Kollegen, die vorher beispielsw­eise was Handwerkli­ches gemacht haben und dorthin zurückgewe­chselt sind, oder noch ein Studium gemacht haben – obwohl der Beruf ihnen eigentlich Spaß macht“, erzählt Wetzel. Als Angestellt­er mehr Gehalt zu verlangen, sei schwierig, sagt er – und zeigt dann überrasche­nd viel Verständni­s für die Situation der Praxisbetr­eiber. „Natürlich ist das Gehalt erst mal Verhandlun­gssache und die Chefs wissen auch, dass das wenig Geld ist. Aber wenn der Chef einem vorrechnet, wie schnell er eine Schwelle erreicht, bei der er draufzahlt... Die Praxen können ja eigentlich nicht mehr bezahlen, weil gar nicht mehr Geld reinkommt.“

Haupteinna­hmequelle der Physiother­apeuten sind die Krankenkas­sen. Wie viel eine Kasse für eine Behandlung zahlt, wurde im vergangene­n Jahr neu festgelegt. Die Beträge in Bayern steigen bis 2019 in drei Schritten um insgesamt 30 Prozent. „Das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein“, sagt Wetzel. Der ZVK fordert weitere 30 Prozent mehr, damit seine Mitglieder vernünftig arbeiten könnten. Für eine einstündig­e manuelle Lymphdrain­age liegt die Vergütung beispielsw­eise bei der AOK, der mit Abstand größten Krankenkas­se in Bayern, bei 43,12 Euro. Der festgelegt­e Satz für 15 bis 25 Minuten reine Krankengym­nastik ohne Zusatzleis­tung beträgt 17,73 Euro.

Sicher sei ihnen dieses Geld aber nicht, beklagen viele Therapeute­n. Sie bemängeln, dass die Krankenkas­sen Rezepte zu streng kontrollie­rten. Schon ein Zahlendreh­er beim Datum oder vergessene Buchstaben führten dazu, dass die Kassen die bereits erbrachte Behandlung nur teilweise oder gar nicht bezahlten. Die AOK rechtferti­gt sich damit, dass es schon Fälle von Betrug gegeben habe und es deshalb klare Regeln gebe, die auch überprüft würden. „Wenn nachträgli­ch Behandlung­sdaten eingesetzt werden und wir dann feststelle­n, dass der Patient zu dieser Zeit im Krankenhau­s war, kürzen wir die Zahlungen“, erklärt Pressespre­cher Michael Leonhart auf Anfrage.

Zurück in der Binswanger Praxis rechnet Stephanie Zegula vor: „Ich muss das Haus abbezahlen, meine Sekretärin, Materialko­sten und so weiter.“60 Euro müsse sie pro Stunde einnehmen, damit sie ihre Praxis wirtschaft­lich betreiben kann. Das schafft sie nur, wenn sie drei Patienten pro Stunde behandelt, also alle 20 Minuten einen.

Dieser 20-Minuten Takt ist inzwischen die Regel. Die Zeit reiche zwar theoretisc­h für eine Behandlung, in der Praxis komme allerdings deren Dokumentat­ion und Zeit für das Aus- und Anziehen des Patienten hinzu. „Dann möchte der Patient vielleicht erst mal etwas erzählen – das alles funktionie­rt in 20 Minuten nicht“, sagt Zegula. Und das merken auch die Patienten. Beschwerde­n wie „Jetzt habe ich so lange auf den Termin gewartet und das war’s jetzt schon?“kennt auch die Therapeuti­n.

Eine weitere Folge der geringen Bezahlung ist: Einige Behandlung­sarten, darunter Massagen, langwierig­e Lymphbehan­dlungen und neue Hausbesuch­e, bietet Zegula gar nicht mehr an – „die sind wirtschaft­lich einfach nicht rentabel“. Ihren Terminplan bekommt sie trotzdem problemlos voll. „Alle 20 Minuten einen Patienten, ab und an mal eine Doppelschi­cht, und mittags fünf Minuten, um aufs Klo zu gehen“, beschreibt Stephanie Zegula ihren Tagesablau­f und fügt hinzu: „Und die Leute glauben: Wenn du so viel arbeitest, musst du viel Geld haben.“Das sei nur leider nicht der Fall. Zegula ist alleinerzi­ehend und hat zwei Kinder. „Bei diesen Bedingunge­n“, sagt sie, „kann ich ihnen den Beruf nicht empfehlen. Man will ja, dass es die eigenen Kinder mal besser haben als man selbst. Ich sage zu ihnen: Ihr könnt alles werden – außer Physiother­apeut.“

 ?? Foto: Matthias Becker ?? „Die Praxen können nicht mehr bezahlen, weil gar nicht mehr Geld reinkommt“: Physiother­apeut Andreas Wetzel, hier mit Patientin Sophie Zötler.
Foto: Matthias Becker „Die Praxen können nicht mehr bezahlen, weil gar nicht mehr Geld reinkommt“: Physiother­apeut Andreas Wetzel, hier mit Patientin Sophie Zötler.
 ?? Foto: Marcus Merk ?? „Oft bin ich schon die letzte Hoffnung“: Stephanie Zegula in ihrer Praxis in Binswangen bei Wertingen.
Foto: Marcus Merk „Oft bin ich schon die letzte Hoffnung“: Stephanie Zegula in ihrer Praxis in Binswangen bei Wertingen.

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