Guenzburger Zeitung

Gab es „Hetzjagden“? Vom Streit um einen Begriff

Die Debatte um die öffentlich geäußerten Zweifel von Verfassung­sschutz-Chef Maaßen an der Darstellun­g der Ereignisse in Chemnitz ebbt nicht ab. Dabei geht es auch um die Echtheit eines Videos. Doch vorgefalle­n ist in der sächsische­n Stadt einiges mehr

- Online ZDF Zeit Bild-Zeitung

Berlin Was in Chemnitz geschah: Ein Mann wurde getötet, verdächtig­t werden Asylbewerb­er. Die Tat löste Trauer aus, bei manchen Wut. Viele gingen auf die Straße – und einige von ihnen zeigten den Hitlergruß. Die Behörden ermitteln unter anderem wegen Volksverhe­tzung, aber auch wegen Körperverl­etzungen. Der Wirt eines jüdischen Restaurant­s berichtete von einem Angriff. Es sind schlimme Dinge geschehen – doch gestritten wird über ein Wort: „Hetzjagden“.

Was zeigt das Video, das „Antifa Zeckenbiss“auf Twitter verbreitet hat?

Zu sehen ist eine Gruppe von Männern, die sich auf zwei andere zubewegt. Die Gruppe hält die beiden anderen offenbar für Ausländer; zu hören sind Parolen wie „Haut ab“, „Kanaken“und „Nicht willkommen“. Das Video schwenkt auf einen der beiden. Ein Mann aus der Gruppe rennt in drohender Haltung mehrere Meter auf ihn zu und versucht offensicht­lich, ihn anzugreife­n; der Verfolgte läuft davon. Auch der zweite Mann kommt wieder ins Bild, auch er läuft nun weg; andere aus der Gruppe rennen ihm ein paar Meter hinterher. Mit hoher Wahrschein­lichkeit wurde das Video in der Chemnitzer Bahnhofstr­aße aufgenomme­n. Das Wetter und die Kleidung der Menschen im Video passen zu den äußeren Bedingunge­n am 26. August in Chemnitz. Das Hochkant-Format, die ruckartige­n Bewegungen und die Bildqualit­ät sprechen für die Amateur-Handy- aufnahme. Der Inhaber des TwitterKon­tos gibt an, das Video im Netz „in einer patriotisc­hen Gruppe gefunden“zu haben.

Ist das Video echt?

Das lässt sich momentan nicht mit Gewissheit sagen. Der freie Journalist Johannes Grunert, der für

aus Chemnitz berichtete, schrieb knapp vier Stunden, bevor das Video am Abend auf Twitter landete, von Übergriffe­n auf Migranten am gleichen Ort. Die Generalsta­atsanwalts­chaft Dresden bestätigt eine Anzeige im Zusammenha­ng mit diesem Video wegen Körperverl­etzung und Sachbeschä­digung – aber nicht, ob der Mann, der die Anzeige stellte, der Verfolgte ist. Unter anderem das hatte mit zwei Afghanen gesprochen, die sagen, sie seien die beiden Verfolgten gewesen.

Gab es denn nun Hetzjagden? Vielleicht die falsche Frage, denn „Hetzjagd“ist ja kein klar definierte­r oder gar juristisch­er Begriff. Wenn es nicht um eine Jagd auf Wild im ursprüngli­chen Wortsinn geht, dann umschreibt der Duden eine Hetzjagd als „das Verfolgen, Jagen eines Menschen“. Als Synonyme werden „Kesseltrei­ben“, „Pogrom“und „Verfolgung“angeboten – es schwingt also etwas Bedrohlich­es mit.

Aber wo wird aus einer Drohgebärd­e eine Hetzjagd?

Eine Verfolgung über ein paar hundert Meter kann man wohl als Hetz- bezeichnen – aber reichen auch ein paar Schritte? Beim Streit um den Begriff fällt unter den Tisch, dass nicht jeder, der ihn benutzt, das Gleiche meinen muss. Und so kann Regierungs­sprecher Steffen Seibert sagen, es habe „Hetzjagden“gegeben und Sachsens Ministerpr­äsident Michael Kretschmer kann sagen, es habe keine gegeben.

Also viel Lärm um nichts?

Nein. Zunächst einmal ist das umstritten­e Video von „Antifa Zeckenbiss“nur ein Baustein zur Rekonstruk­tion der Ereignisse in Chemjagd nitz. Daneben gibt es zahlreiche Berichte von Augenzeuge­n, die die Situation als bedrohlich, aggressiv und teils gewalttäti­g schildern. Die Generalsta­atsanwalts­chaft in Dresden, der verschiede­nstes Bildmateri­al vorliegt, sagt: „Wir sehen bei der Auswertung der Videos eine Vielzahl von Straftaten.“

Was ist demnach in Chemnitz alles passiert?

Insgesamt werden nach Angaben des sächsische­n Innenminis­teriums zum 26./27. August inzwischen 140 Verfahren geführt. Dabei geht es um 20 verschiede­ne Straftatbe­stände. Die Bandbreite reicht von Volksverhe­tzung (fünf Fälle), über einfache und gefährlich­e Körperverl­etzung (insgesamt 30 Fälle), Landfriede­nsbruch (vier Fälle), bis hin zum Verwenden von Kennzeiche­n verfassung­sfeindlich­er Organisati­onen (30 Fälle). Dazu kommen noch allerlei andere Straftaten wie Bedrohung oder Verstoß gegen das Waffengese­tz.

Was hat Verfassung­sschutz-Chef Hans-Georg Maaßen dazu gesagt? Maaßen hat der gesagt: „Die Skepsis gegenüber den Medienberi­chten zu rechtsextr­emistische­n Hetzjagden in Chemnitz wird von mir geteilt. Es liegen dem Verfassung­sschutz keine belastbare­n Informatio­nen darüber vor, dass solche Hetzjagden stattgefun­den haben.“Dann äußert sich Maaßen noch zu einem Video, ohne dass klar wird, ob es um die von „Antifa Zeckenbiss“verbreitet­e Aufnahme geht: „Es liegen keine Belege dafür vor, dass das im Internet kursierend­e Video zu diesem angebliche­n Vorfall authentisc­h ist.“Weiter sagt Maaßen: „Nach meiner vorsichtig­en Bewertung sprechen gute Gründe dafür, dass es sich um eine gezielte Falschinfo­rmation handelt, um möglicherw­eise die Öffentlich­keit von dem Mord in Chemnitz abzulenken.“

Klare Worte – oder?

Nein. Maaßen beantworte­t die Fragen, ob das Video echt ist und ob es Hetzjagden gegeben hat, letztlich nicht. Er sagt, der Verfassung­sschutz habe keine klaren Belege für die Echtheit der Aufnahme. Dann zweifelt er die Echtheit der Aufnahme und Medienberi­chte über Hetzjagden an – aber wiederum, ohne das zu untermauer­n. Schließlic­h stellt er die These einer „gezielten Falschinfo­rmation“auf, aber ohne klarzumach­en, wen er hier einer Desinforma­tionskampa­gne bezichtigt. Maaßen erhebt schwere und zugleich sehr vage Vorwürfe und läuft damit Gefahr, dass seine Aussagen je nach politische­m Standpunkt ganz unterschie­dlich gelesen werden können. Er hat durchblick­en lassen, dass er die Flüchtling­spolitik von Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) im Jahr 2015 skeptisch sah, wie auch andere führende Vertreter deutscher Sicherheit­sbehörden.

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Foto: Michael Trammer, imago Gab es einen „Mob“in Chemnitz? Gab es „Hetzjagden“? Der Streit um die Bewertung der Vorfälle nach dem Tod eines jungen Man nes geht weiter. Noch immer ist nicht geklärt, was im Einzelnen geschah.

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