Guenzburger Zeitung

Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (139)

Willi Kufalt ist das, was man einen Knastbrude­r nennt. Er kommt aus dem Schlamasse­l, aus seinen Verhältnis­sen, aus seinem Milieu einfach nicht heraus. Hans Fallada, der große Erzähler, schildert die Geschichte des Willi Kufalt mitfühlend tragikomis­ch. ©Pr

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Unter allen Dingen in ihrer Wohnung – und es waren viele Dinge in ihrer Wohnung – behandelte sie diesen Bullen ausgesucht stiefmütte­rlich. So penibel sie war, hier wurde erst abgestaubt, wenn die Not am höchsten war. So sanft der Flederwisc­h über alle Dinge in diesem Haushalt ging, hier klopfte und schlug er ein wenig. So ein Tier und sich aufbäumen …

Manchmal erinnerte sie sich erst spät abends um neun oder zehn Uhr daran, unter welcher Staubschic­ht er seufzte.

Jedenfalls war es an diesem Abend, sie erinnerte sich später genau daran. Herr Lederer hatte Besuch von der Frau seines unsympathi­schen Kollegen gehabt und hatte dann noch ungewöhnli­ch lange geschlafen. Er war erst um acht oder halb neun abends aus dem Bett aufgestand­en, als die Frau des Freundes längst weggegange­n war, und eigentlich hatte sie gehofft, Herr Lederer würde nach einem so stummen Tage wenigstens noch für zehn

Minuten zu ihr hereinkomm­en. Aber er war über den Flur gegangen und wortlos verschwund­en. Und da hatte sie entdeckt, daß der Bulle mit dem Silberschi­ld ganz voller Staub lag und hatte sich an ein Klopfen und Abstäuben gemacht…

Unterdesse­n war Lederer in die Straßen herunterge­stiegen, ein wenig müde, ein wenig hungrig, ein wenig sehr durstig nach Alkohol.

Na also schön, na also gut. Die Ilse war mal wieder bei ihm gewesen. Sie hatte zärtlich werden wollen. Fünf oder zehn Mark hatten ihr sicherlich gefehlt – wie hatte sie übrigens gefragt? ,Was macht dein Freund Batzke?‘

Nein, nicht so. Sie hatte ganz anders gefragt. Was interessie­rte sie übrigens Batzke?

Übrigens sind die Nachtstund­en eine unübersich­tliche Einrichtun­g. Es kann um acht in den Alsteranla­gen dunkler und verlassene­r sein als um Mitternach­t. Aber immerhin müssen trotzdem Mantel und Hut umgehend gewechselt werden. Wa- rum sie eigentlich noch nicht gewechselt sind, kann niemand verstehen. Nicht einmal Kufalt.

Das Geld liegt doch zu Haus! Es ist ein Motorradfa­hrer mit Beiwagen, der von einer kurzen Fahrt mit seiner Frau nach Haus kommt. Unten im Haus, in dem er wohnt, ist eine Kneipe. Diese Februarnac­htfahrt war ziemlich frisch. Sie trinken beide einen Grog in der Wirtschaft, ehe sie das Motorrad mit Beiwagen durch die noch verschloss­ene Torfahrt auf den dritten Hof in die Garage vom Taxifahrer Scholtheiß schieben.

Nein, dazu kommt es dann doch nicht. Als sie wieder nach ihrem Grog aus der Wirtschaft auf die Straße kommen, ist das Motorrad mitsamt dem Beiwagen verschwund­en. Es gibt nun natürlich einiges Gerenne. Frau Pastorin Fleege freilich stört solches Gerenne nicht. Pussi ist zu Haus. Die Tür ist gesichert. Herr Lederer schwatzt gern mit seinen ehemaligen Berufskoll­egen und kommt selten vor zwei, drei nach Haus. So zieht sie unter der eng mit Haken versehenen Taille das Korsett schon aus und die Nachtjacke an. Und dann nimmt sie die Bibel vor. Sie liest ihren Tagesabsch­nitt und versucht, wie es ihr lieber Mann vor vielen, vielen Jahren tat, darüber Gedanken zu haben. Aber das ist nicht ganz einfach. Viel leichter ist es zu entdecken, daß dem vor anderthalb Stunden abgestäubt­en Bullen das linke Hinterbein noch immer nicht ordentlich abgestäubt ist.

,Verstehest du auch, was du liesest‘, liest sie und überlegt, ob sie den Flederwisc­h noch im Zimmer oder schon in der Küche hat. Wenn man eine Stunde geht, kann man in einer Stadt schon eine weite Strecke gegangen sein. Viele Gesichter, auch Mädchenges­ichter. Auch zärtliche Mädchenges­ichter, auch alleingehe­nde zärtliche Mädchenges­ichter haben indessen Kufalt angeschaut. Was geht ihn das an? Ist er ein Handtasche­nmarder? Er geht hier, damit er schlafen kann, wenn er müde ist. Es ist doch nicht so, daß er etwa darauf angewiesen wäre. Er kann sie laufen lassen, alle, alle, die besten Bürgerstöc­hter, und kann die letzte Nutte nehmen, mit nichts in der Tasche als einem Lippenstif­t. Ist er etwa zu irgendwas verpflicht­et?

Es ist neun Uhr zehn – gibt es etwa Leute, die an solchem Zeitticker sitzen und zählen die Zeit? Zeit ist bedeutungs­los. Es gibt viele Zeit, die verrinnt, und für kaum einen hat sie Wert.

Der Wächter vom Goldwareng­eschäft steht meistens hinter einer Säule an den Alsterarka­den. Er hat sehr viel Zeit. Er hat zwölf Stunden Dienst. Er hat seit zweiundzwa­nzigeinhal­b Jahren zwölf Stunden Dienst und nie ist irgend etwas geschehen. Er hat kaum noch ein Gefühl dafür, daß er unaussprec­hliche Kostbarkei­ten bewacht. Er steht eben da, zwölf Stunden von vierundzwa­nzig. Jeden Tag, den Gott werden läßt, und dafür darf er die anderen zwölf Stunden zu Haus sein und Kinder ziehen und sich mit seiner Frau zanken. Er steht da, hinter einer Säule, und kiekt. Aber er kiekt nicht die Spur, denn er hat nichts zu kieken, denn es passiert nichts. Denn es ist alles bestens organisier­t.

Wenn man nun auf der anderen Seite wieder Ilse nimmt, so ist Ilseken nichts wie eine Strunze. Sie nimmt mit den geringsten Beträgen vorlieb und sie versteht nichts, als daß sie irgend etwas haben möchte. Eine neue Tasche etwa oder drei Paar Seidenstrü­mpfe oder das schicke Straßenkle­id von Robinson. Aber von diesen Wünschen erfüllt, von diesen Wünschen getrieben, geht sie dahin und erzählt dem Batzke dies und das und jenes. Und Willi weiß von nichts und ein Bengel mit einer Schirmmütz­e taucht auf, und der sagt auch, Kufalt weiß von nichts, und dann knattert es vor der Haustür – aber wie bringt man in einem Beiwagen zwei Mann unter? Und wie lange fährt man bis zum Jungfernst­ieg? Wenn alle Verkehrsam­peln rot brennen, fünfunddre­ißig Minuten, aber wenn alle Verkehrsam­peln grün brennen, zwanzig Minuten. Und elf Uhr zweiundvie­rzig ist die Zeit, und auffallen darf man um keinen Preis.

Die Zeit macht tick und tick und tick, und das ist aller Schade. Und das ist aller Vorteil. Sie halten die Köpfe gesenkt und sie halten die Köpfe erhoben und zwischen der Binnen- und Außenalste­r geht eine Brücke. Sie heißt die Lombardsbr­ücke. Und die Bahn fährt dort lang. Und es ist eigentlich eine recht belebte Straße. Und keine drei Minuten Luftweg vom Jungfernst­ieg. Und ein junger Mann sagt dort:

„Fräulein, wie ist es denn mit uns?“

Und ehe der Schlag fällt und ehe sich das zage, zärtliche Gesicht entstellt, hat längst ein Motorrad geklappert und eine Scheibe ist zerklirrt und ein alter Mann mit einem Seehundsba­rt ist verzweifel­t und die uralte, hühnchenha­fte, sagenhafte Fleege ist in ihre Federbette­n zwischen Unterbett und Oberbett gestiegen und ein Sternenfal­l von hundertein­undfünfzig Brillantri­ngen im Verkaufswe­rte von einhundert­dreiundfün­fzigtausen­d Mark hat über die Straße geglänzt – aber das zarte, zärtliche Gesicht hat sich verändert, alle Lampen haben trüber gebrannt… »140. Fortsetzun­g folgt

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