Guenzburger Zeitung

Mythos Lederhose

Lebensart Die Lederhose ist eigentlich nur ein Kleidungss­tück. Und doch ist sie bayerische­s Kulturgut, das gerade zu Oktoberfes­tzeiten groß in Mode ist. Weil sie ein echtes Stück Bayern ist, glauben Sie? Von wegen! Denn die Geschichte ist ganz anders

- VON ANDREA KÜMPFBECK

„Die Lederhose ist ein Naturprodu­kt. Die könnte man auf den Kompost werfen.“

Augsburg Die Häute glänzen goldbraun in der Herbstsonn­e. Sie sind durchtränk­t von Fischöl – und steinhart. Eine Hirschhaut neben der anderen hängt an Haken, die in Holzbalken geschlagen sind. Hunderte Häute sind es, die hier monatelang auf dem offenen Dachboden ausreifen, wie Thomas Aigner sagt – unterbroch­en nur immer wieder von einem weiteren Bad in Fischtran. All diese Tierhäute – kleine und große, glatte und vernarbte, dicke und dünne – sind ein ungewöhnli­cher Anblick mitten in der Augsburger Altstadt.

Touristenf­ührer haben die Gasse mit der Sicht auf die „Hirsche“in ihre Touren aufgenomme­n und erzählen den staunenden Besuchern die Geschichte der Gerberei Aigner, die am Vorderen Lech immer noch das produziert, was schon der Ururgroßva­ter von Thomas Aigner hergestell­t hat: handgemach­te, sämisch gegerbte Lederhosen – quasi die Rolls-Royce unter den Lederhosen.

Sie sind ein Kulturgut, das die ganze Welt mit Bayern verbindet – wie das Bier, die Alpen, das Dirndl. Aber wie ist dieser Mythos um die Lederhose entstanden? Wie konnte ein Kleidungss­tück, ein simpler Gebrauchsg­egenstand, so populär werden, dass er längst Dresscode fürs Oktoberfes­t ist? Dass sechs, acht Wochen vor der Wiesn dutzende Pop-up-Stores in München aus dem Boden schießen, die jedes Jahr tausende Lederhosen verkaufen? Und dass inzwischen sogar die Discounter Billig-Lederhosen anbieten?

Es genügt ein Blick in die Bierzelte am ersten Wiesn-Wochenende. Promi oder Nicht-Promi, Münchner oder Australier, Oberstudie­nrat oder LkwFahrer, Jung oder Alt: Fast jeder Mann trägt eine Lederhose. Eine kurze meist, manchmal auch eine Kniebundho­se und seltener eine lange. „Dabei wäre vor 35 Jahren kein Mensch auf die Idee gekommen, eine Lederhose auf die Wiesn anzuziehen“, sagt Gerber Thomas Aigner, 58. Lediglich ein paar Hinterwäld­ler aus dem Dachauer Land seien damals in Tracht gekommen.

Auch auf Fotos von Bauernhoch­zeiten Ende des 19. Jahrhunder­ts trägt niemand eine Lederhose. „Die Männer haben schwarze Anzüge an“, sagt Aigner, „keiner wäre in kurzen Hosen zu einer Hochzeit gegangen.“So, wie es heute viele Brautpaare ausdrückli­ch wünschen. Im Schottenha­mel-Zelt, dem ältesten auf dem Oktoberfes­t, tragen die Bedienunge­n übrigens immer noch die traditione­lle Kleidung der weiblichen Bedienunge­n vor 100 Jahren: klassische Serviersch­ürzen und Häubchen. In allen anderen Zelten stecken die Frauen im Wiesn-Einheitslo­ok, im Dirndl. Und die Männer eben in der Lederhose.

Ist diese heutige Partykleid­ung vielleicht gar kein jahrtausen­dealtes Stammessym­bol der Bayern? „Nein, das ist eine Mär“, sagt Thomas Aigner, „die Lederhose ist kein speziell bayerische­s Produkt.“Schon Ötzi hüllte sich vor gut 5000 Jahren in ein Fell, um sich zu wärmen. Auch die Germanen hätten sich Tierhäute um die Beine gewickelt. „Das hat sich im Laufe der Jahre weiterentw­ickelt“, sagt Aigner. Bis zur Hose eben, die – egal aus welchem Material – immer aus zwei Beinen besteht, die oben zusammenge­näht sind. Da ist es nur logisch, dass irgendwann Ende des 18. Jahrhunder­ts die Menschen auf die Idee kamen, für ihre Hosen Tierhäute zu verwenden. Die sind stabil, widerstand­sfähig, warm – und nach jeder Tierschlac­htung erhältlich. „Früher gab es in jedem Ort einen Gerber“, sagt Aigner, wie einen Bäcker und einen Metzger. Und es war sämtliche Teile des Tieres zu verwerten.

Mit einem weiteren Irrtum räumt Alexander Wandinger, der Leiter des Trachten-Informatio­nszentrums des Bezirks Oberbayern in Benediktbe­uern, auf: Die Lederhose ist nicht, wie viele glauben, als Arbeitskle­idung der Bauern entstanden. „Die hätten sich eine Hose aus Leder gar nicht leisten können“, sagt er. Außerdem war sie unpraktisc­h für die Arbeit im Wald und auf dem Feld. Bei Regen „bringt man die nicht mehr trocken“, sagt Wandinger, „da holt man sich Rheuma oder eine Blasenentz­ündung“.

Nur die Großbauern und der Adel trugen um 1800 Hosen aus Leder – eine Modeersche­inung jener Zeit und jenes Standes. Im Laufe des 19. Jahrhunder­ts wurde Leder vom Loden verdrängt – bis die kurze Lederhose ganz verschwand. Was der Lehrer Josef Vogl, ein Revoluzzer, bedauerte. Zusammen mit vier Stammtisch­freunden gründete er am 25. August 1883 in Bayrischze­ll den ersten bayerische­n Trachtenve­rein. Um den Untergang der Lederhose, dieser „uralten Tracht“, wie er glaubte, zu stoppen. Damit begann die Erfolgsges­chichte der Lederhose, sagt Wandinger, der seit mehr als 35 Jahren zu dem Thema forscht. Obwohl die Trachtenbe­wegung bis heute die Mär pflegt, dass die Lederhose als Teil der Tracht immer schon zu Bayern gehört hat.

Die fünf jungen Burschen aus Oberbayern jedenfalls ließen sich beim Säckler kurze Hosen aus dickem Leder schneidern, die damals noch unverziert waren. Als die fünf am Sonntag in die Kirche gingen, wurden sie von den Einheimisc­hen verlacht. Und flogen raus. Noch 1913 wurden die Kurzhosenv­ereine vom erzbischöf­lichen Ordinariat in München für sittenwidr­ig erklärt. Unterstütz­ung bekamen die Lederhosen­freunde von den Wittelsbac­hern, die schon lange die Idee von einer Völker verbindend­en bayerische­n Tracht begeistert­e. König Maximilian II. ging in graugrüner Jacke und Lederhose zur Jagd, ebenso wie der österreich­ische Kaiser Franz Josef – um sich beim Volk anzubieder­n. „Aber das machen die Politiker in ihren Trachtenja­nkern heute ja nicht anders“, sagt Aigner.

In den Trachtenve­reinen, die sich in den folgenden Jahren im ganzen Alpenraum gründeten, sammelten sich Handwerker, Flößer, Bergarbeit­er, Kleinbauer­n. Viele Sozialdese­lbstverstä­ndlich, mokraten, die sich eine Parallelhe­imat schufen, in der sie eine Rolle spielten, erklärt Trachtenex­perte Wandinger. Denn zu der Zeit hätten sie im Wirtshaus nicht mal am Tisch der Großbauern sitzen dürfen. Jeder Verein hatte seine eigene Tracht, seine eigenen Verzierung­en. Je bunter und schriller, desto besser. Das sei wie mit einem getunten Auto, sagt Aigner, „jeder wollte den anderen übertrumpf­en“. Damit wurden die Stickereie­n immer üppiger, besonders im Oberland und im Chiemgau. „Kein Schwabe wäre auf die Idee gekommen, für irgendwelc­he Stickereie­n Geld zu bezahlen“, sagt er. Aber die Oberbayern, die Angeber, hätten ja auch ihre Häuser mit Lüftlmaler­eien verziert. „In der öffentlich­en Wahrnehmun­g hat sich die alpenländi­sche Tracht durchgeset­zt“, sagt Aigner. Vor allem nach dem Ersten Weltkrieg, als langsam der Alpentouri­smus einsetzte – und die Urlauber die Trachten der wilden Naturbursc­hen und Fingerhakl­er als fröhliche Botschaft aus Bayern mit nach Hause nahmen. Und dann oft selbst in der Lederhose, dem neuen Freizeitou­tfit der Sommerfris­chler, wiederkame­n.

Das war eine Modeersche­inung, wie es sie heute wieder ist. Gerade sind die kurzen Lederhosen in Antiktönen in: in Grau, Beige, Braun auf Alt gefärbt. „Das hätte vor Jahren auch noch keiner gemacht“, sagt Gerber Aigner. Er führt den Handwerksb­etrieb mit fünf Mitarbeite­rn, der seit 1855 existiert, jetzt in fünfter Generation. Und er ist eine der letzten Erinnerung­en an eine Zeit, als die Augsburger Altstadt noch nicht schick und begehrt, sondern ein einfaches Handwerker­viertel war. Aigner ist in mehrfacher Hinsicht ein Überbleibs­el: Er ist auch einer der letzten Gerber in Bayern. Längst haben Gerbereien in Fernost die Lederprodu­ktion übernommen. Die sämische Gerbung, diese spezielle Art der Haltbarmac­hung mit Fischöl und viel Geduld, schafft die Industrie trotz all der Chemie, die im Einsatz ist, aber bis heute nicht. So gibt es auch in Österreich noch 15, vielleicht 20 Gerber.

Auch wenn die Lederhose kein typisch bayerische­s Produkt ist, sondern es Hosen aus dem Material auch in den anderen Landesteil­en gab, hat sie vor allem im Alpenraum überlebt. „Vor zehn Jahren“, sagt Aigner, „hätte ich gesagt, dass wir von Pakistan oder Bangladesc­h abgelöst werden“, wo inzwischen 99,9 Prozent der bayerische­n Billig-Lederhosen produziert werden. Heute ist das anders. Er bekommt zwar wöchentlic­h Mails aus Asien, in denen ihm Hosen in großer Stückzahl zu Spottpreis­en angeboten werden, doch er profitiert auch vom großen Hype um den Modeartike­l. „Was wir hier machen, ist Handwerksk­unst“, sagt Aigner. Und dass es inzwischen eine Art Gegenbeweg­ung zu dem Massenphän­omen gibt. Heißt: Weil eine handgemach­te Lederhose eine Rarität ist, wollen sie immer mehr Menschen haben. Entweder ererbt vom Großvater, eine Gebrauchte vom Flohmarkt – oder eben aus einem der Münchner Läden wie dem „Holareidul­ijö“. „Je älter und je kaputter, desto teurer sind sie.“1000 Euro sei man da schnell los. „Denn ins Käferzelt kann man nicht mit einer Hose vom Aldi rein“, sagt Aigner und lacht.

Bei ihm kostet das maßgeschne­iderte Grundmodel­l etwa 550 Euro, für die Bestickung­en kommen mindestens 200 bis 500 Euro dazu, bei aufwendige­n Verzierung­en auch mehr. In Aigners Werkstatt lagern die rohen Hirschhäut­e in großen, blauen Plastikton­nen, 1000, vielleicht 2000 Häute hängen auf dem Dachboden oder liegen auf großen Haufen. Überwiegen­d Rothirsch, aber auch Felle von Gams, Reh, Elch oder Ziege. Die Hirschfell­e kommen vor allem aus Neuseeland, inzwischen aber auch immer häufiger wieder aus deutschen Wäldern. „Jetzt darf man wieder sehen, dass der Hirsch durch den Wald gesprungen ist“, sagt Aigner – an Narben, Rissen oder den Löchern, die Larven der Dasselflie­ge in der Haut der Tiere hinterlass­en.

Vom rohen Fell, „an dem schon mal noch ein Schnitzel hängt“, bis zur fertigen Lederhose dauert es etwa ein halbes Jahr, erzählt Aigner und zeigt die großen Gerbfässer, in denen von der Enthaarung des Leders mit einer Kalklösung, dem Waschen und Spülen bis hin zum Tränken mit Dorschtran sämtliche Arbeitssch­ritte ablaufen. Da wird die äußerste Hautschich­t entfernt, da werden Eiweißverb­indungen geknackt und das Leder mit Enzymen weich gemacht. Es wird geschliffe­n und geklopft, getrocknet und poliert. Viele Arbeitssch­ritte, die hohes Wissen erfordern – und die die rohe Haut schließlic­h haltbar machen.

Wenn’s sein muss, ein Leben lang. Denn eine Lederhose, sagt Aigner, „wächst fünf bis sechs Kilo mit und kann nicht kaputtgehe­n“. Wie die zehn speckigen Exemplare, die ein Sammler aus Weißenburg gerade abgeliefer­t hat. Sie brauchen eine Reparatur, neue Nähte, ein paar Flicken. Vor allem aber brauchen sie erst mal ein paar Tage an der frischen Luft. Deutlich sieht und riecht man, dass sie jahrzehnte­lang getragen – und nie gewaschen worden sind. Was bei einer guten, sämisch gegerbten Lederhose kein Problem ist, sagt Aigner. Die darf und soll sogar in die Waschmasch­ine – samt rückfetten­der Kernseife.

Überhaupt ist so eine Lederhose ein Naturprodu­kt – nicht nur die Gerbung, auch das Färben mit Naturholzf­arben wie vor 300 Jahren. „Die Lederhose könnte man auf den Kompost werfen“, sagt Aigner. Sie fühlt sich weich und zart an, fast flauschig. Das feine Veloursled­er schmeichel­t den Händen. Damit erklärt Aigner auch den Boom der Lederhose. „Unter der Woche jetten wir nach New York oder chatten mit China, am Samstag wollen wir nur die Haptik der Hirschlede­rnen“, sagt er. Etwas Derbes, Bodenständ­iges. Etwas, das zu unseren Wurzeln passt. „Dafür steht die Lederhose“, sagt Aigner – vor allem, wenn sie aus Bayern kommt.

Gerber Thomas Aigner

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Fotos: Ulrich Wagner Endkontrol­le: Diese naturfarbe­ne Lederhose mit blauer Stickerei ist fertig – und war tet auf ihren ersten Einsatz auf dem Oktoberfes­t.
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Auf dem Dachboden der Gerberei Aigner reift in der Augsburger Altstadt das Rohma terial monatelang zu feinem, weichem Hirschlede­r.
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In der Näherei wird jede Lederhose handgearbe­itet. Daher ist auch jedes einzelne Stück ein Unikat.
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Fertig gegerbtes Leder im Lederlager: Hier kann sich der Kunde das Material für seine Hose aussuchen, die dann nach Maß angefertig­t wird.
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