Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (152)
EWilli Kufalt ist das, was man einen Knastbruder nennt. Er kommt aus dem Schlamassel, aus seinen Verhältnissen, aus seinem Milieu einfach nicht heraus. Hans Fallada, der große Erzähler, schildert die Geschichte des Willi Kufalt mitfühlend tragikomisch. ©Projekt Gutenberg
ines schönen Frühjahrsmorgens sagt Staatsanwaltschaftsrat Gröschke zu seinem Assessor: „Ich habe da am Freitag den Fall Kufalt. Sehen Sie doch mal die Akten ein und arbeiten Sie mir einen Boden aus. Nehmen Sie jede Straftat genau unter die Lupe. Und zeichnen Sie mir den Strafrahmen auf, der für jede Tat ausgeworfen ist. Ich möchte für die Strafanträge ganz klar sehen.“
„Wird tadellos gemacht“, sagt der Staatsanwaltschaftsassessor Söhnlein und kniet sich in die Akten.
Söhnlein hat zwei Leidenschaften: Kakteenzucht und Strafrecht. Aber die zweite ist die größere. Er ist gewissermaßen ein Arithmetiker des Gesetzes: die Menschen verflüchtigen sich unter seinen Händen, die Paragraphen bleiben. Dann lösen sich auch die Paragraphen auf und werden zu Zahlen. Dinge sind geschehen, Leidenschaften waren los, Wünsche, Begierden, Kämpfe – nun werden Zahlen daraus, nur
Zahlen. Und am Freitag wird Herr Staatsanwaltschaftsrat Gröschke diese Zahlen benutzen.
Da ist nun der Fall Wilhelm (nicht Willi) Kufalt. Söhnlein schreibt: „Vorbestraft 1924 mit 5 Jahren Gefängnis wegen
1. Unterschlagung aus StGB.
2. Schwerer Urkundenfälschung in verschiedenen Fällen aus § 268 StGB.“
„Schön, schön, sehen wir weiter, was er diesmal auf der Schippe hat.“Der Assessor schreibt:
,1. 14–15 ,selbständige‘ Handtaschendiebstähle, da der Täter jedesmal neu den Entschluß zu einer Wegnahme faßt …‘
„Kommt hier unzweifelhaft in Frage.“
,§ 249 StGB. (Raub) und gleichzeitig § 223 StGB. (Körperverletzung), und zwar § 223 a StGB., da die Körperverletzung mittels eines hinterlistigen Überfalls begangen wurde. § 246
Der in Frage kommende Strafrahmen ist nach § 73 StGB, nur aus § 249 StGB. zu entnehmen. Es liegt bei Raub und Körperverletzung nur eine Handlung vor, die nur nach einem Deliktbestand zu bestrafen ist:
1 – 15 Jahre Zuchthaus, bei mildernden Umständen 6 Monate bis 5 Jahre Gefängnis.‘
„Aber der Raub ist ja auf öffentlichem Wege begangen!“
Er schreibt:
,Also nicht § 249 StGB., sondern § 250 Ziffer 3 StGB.:
5 – 15 Jahre Zuchthaus, bei mildernden Umständen 1 – 5 Jahre Gefängnis.‘
„Kommt Nummer 2. Also …“Er schreibt:
2. ,Diebstahl‘ des Sparkassenbuchs und von 37,56 RM Bargeld ist ein ,räuberischer Diebstahl‘. Der Täter ist nach § 252 StGB. wie ein Räuber zu bestrafen. (S. o. § 249 StGB.)
3. Tip für Schaufenstereinbruch gleich Beihilfe zu Einbruchsdiebstahl: §§ 243 Abs. 1 Ziffer 2, 49 StGB.
4 Monate 15 Tage bis 1 Jahr 4 Monate 15 Tage Gefängnis. Oder: 1 Jahr bis 9 Jahre 11 Monate Gefängnis, bei mildernden Umständen 22 Tage Gefängnis bis 4 Jahre 11 Monate 29/30 Tage Gefängnis.
Auch wenn das Verbrechen gegen den Willen des Gehilfen zustande kommt, ist es zu bestrafen.
Ein von Strafe befreiender Rücktritt des Gehilfen liegt nicht vor, da er nicht die Förderlichkeit seiner Tätigkeit für die Haupttat beseitigt hat.
4. Erpressungsversuch beim Führer der Einbrecherbande §§ 253, 43 ff. StGB.
7 Tage bis 4 Jahre 11 Monate 29/30 Tage Gefängnis.
„Na also“, sagt Herr Assessor Söhnlein vergnügt zu sich.
„Das ist ja fein fix gegangen. Wollen wir also die Zusammenstellung für die Strafabmessung machen. Strafschärfende Voraussetzungen liegen kaum vor. Also“: Er schreibt eifrig, er rechnet:
1. Raub in Idealkonkurrenz mit Körperverletzung, 15 verschiedene Handlungen, mildernde Umstände
2. Räuberischer Diebstahl
3. Beihilfe zum Einbruchsdiebstahl
4. Erpressungsversuch Zusammen: 18 Jahre 1 Monat Gefängnis, davon als Gesamtstrafe: 10 Jahre Gefängnis.
„So“, sagt der Assessor Söhnlein und betrachtet liebevoll sein Werk, „das wird ungefähr stimmen. Ein bißchen hoch gerechnet, aber es kommt ja doch immer was runter.“
Das große, geschlossene, grüne Auto hupte einmal gellend vor dem Anstaltstor, am Fenster des Torhauses erschien ein Wachtmeistergesicht, nickte dem Schupochauffeur zu, und kurz darauf öffnete sich langsam das große, zweiflüglige Tor.
Das Transportauto fuhr durch den Torweg, über einen Platz und hielt vor dem Verwaltungsgebäude.
Vorne kletterte der Chauffeur heraus, dann kamen hinten aus dem Wagen zwei Schupos, und aus dem Verwaltungsgebäude traten fast gleichzeitig vier Beamte, davon einer in Zivil.
„Die Einlieferung“, sagte der Schupo.
„Wieviele?“fragte der Zivilist. „Fünf Mann!“, sagte der Schupo. „Schön“, sagte der Zivilist. „Was Längeres dabei?“
„Weiß ich nicht, habe ich mir nicht so genau angesehen. Einen haben wir fesseln müssen, hat rote Papiere.“
„Heißt?“
„Warten Sie mal. Hier. Kufalt. Sieben Jahre hat er. Raub, Einbruchsdiebstahl, hat das ganze Strafgesetzbuch.“
„Hat wohl mal türmen wollen?“„Möglich. Keine Ahnung. Im Wagen war er friedlich.“„Also los.“
Die beiden Schupos gehen in den Wagen und schließen die Zellen auf. Eine Wolke von grauem, stinkendem Tabaksqualm dringt heraus. „Schweine“, sagt der Schupo. „Ich hab’ euch das Rauchen doch extra verboten.“
Dann kommen die Gefangenen. Erst ein kleiner, alter Mann mit einem weißen Totenkopf, der sich angstvoll umsieht.
Dann ein junger Mensch, mit schwarzem, krausem Haar, sehr schick gekleidet, tadellose Bügelfalte, der überlegen die Beamten mustert und dann leise pfeifend die Hände in die Taschen steckt.
„Nehmen Sie die Hände aus den Taschen, sofort!“
Der Mann tut es, absichtlich langsam.
„Frisch heute morgen, Herr Inspektor“, sagt er. „Ich glaub’, der alte Wackelkopf hat vor Angst in die Hosen geschissen.“„Wie?!“
„Er stinkt jedenfalls wie ’ne ganze Latrine.“
„Hören Sie mal“, sagt der Beamte drohend zu dem zitternden alten Mann, „ist das wahr, was der sagt? Haben Sie in die Hosen?“
„Ogottogott“, wimmert der Alte, „tun Sie mir bloß nichts, Herr… Ich kann nichts dafür…“
»153. Fortsetzung folgt