Wie Berlin die Freiheit sucht
Jonathan Berlin ist in Günzburg aufgewachsen und spielt im heutigen ARD-Film „Kruso“eine Hauptrolle. Welche Gemeinsamkeiten er mit seiner Rolle sieht
Günzburg Der Star des heutigen Fernsehabends ist ein Günzburger. In der ARD läuft um 20.15 Uhr „Kruso“. Der Film basiert auf Lutz Seilers gleichnamigen Roman und spielt auf der Insel Hiddensee. DDR-Aussteiger nutzen sie als Zufluchtsort. Der Hauptrolle Ed gab der 24-jährige Jonathan Berlin ein Gesicht. Er wuchs in Leipheim und Günzburg auf und wohnt in Berlin.
Ed flüchtet nach einem traumatischen Erlebnis von Halle auf die Insel. Als er sich nachts versteckt, rettet ihn ein Unbekannter vor DDRGrenzern. Der Anonymus stellt sich als Kruso (Albert Schuch) heraus – Typus Sektenführer, der Aussteiger um sich schart und Ed unter seine Fittiche nimmt.
Kruso möchte verhindern, dass die Schiffbrüchigen, wie er die Aussteiger nennt, auf der Flucht durchs Meer sterben. Manche von ihnen dürfen im Hotel „Zum Klausner“übernachten. Er gibt ihnen Suppe, als würde er sie anfüttern. „Das Maß der Freiheit in unseren Herzen übersteigt die Unfreiheit der Verhältnisse“, – das ist sein Leitsatz. Er ist überzeugt, in einem unfreien System frei leben zu können. Die Gruppe feiert ein Gelage an der Küste, Uniformierte lassen sie gewähren. Krusos Vater, der ihn als Kind auf die Insel schickte, ist General der Roten Armee, was ihn unangreifbar macht. Was im Rest Deutschlands passiert, dringt nur übers Radio nach Hiddensee: Als die Grenzen der DDR wanken, schrumpft Krusos Gefolgschaft.
Als die Mauer fiel, lag Jonathan Berlins Geburt noch fünf Jahre voraus. Doch schwierig war es für ihn nicht, sich in diese Zeit zu versetzen, sagt er im Gespräch mit unserer Zeitung: „Als Schauspieler tauche ich ja grundsätzlich in Figurenwelten ein, die mich privat nicht unbedingt betreffen.“ In „Kruso“tauchen Zitate des Dichters Georg Trakl auf, die Figur Kruso korrespondiert mit Daniel Defoes Roman „Robinson Crusoe“. Berlin nutzte diese Werke, um sich vorzubereiten. Um ein Gefühl für die Lebenswelt zu erhalten, studierte er Bildbände. „Ich versuche bei neuen Rollen immer, auch genau die Konflikte der Figuren herauszuarbeiten, die mich auch selbst begleiten“, sagt der 24-Jährige. „Flucht und Freiheit sind ja univer- selle, zeitlose Begriffe und ja auch heute erschreckend aktuell.“
Ist Berlin nach Berlin geflüchtet, wie es Ed nach Hiddensee trieb? Diese Parallele habe er nicht gezogen, „zumindest nicht bewusst“, sagt er. Was ihn und Ed verbindet? „Ed ist so ein pazifistischer Krieger, im besten Sinne.“Sie seien beide „sehr suchend und dabei sehr nachdenklich“, sagt Berlin, und sie teilten den „Drang, etwas neues zu entdecken“. Der größte Unterschied? „Zum Glück bin ich nicht von ganz so großen persönlichen Kämpfen geplagt.“
Die Freundschaft zwischen Ed und Kruso ist ein zentrales Element des Werks. Um sie darzustellen, müsse auch zwischen den Menschen vor der Kamera, Jonathan Berlin und Albrecht Schuch, „eine gewisse Dynamik“existieren, sagt er. „Wir haben zwei Monate in Litauen gedreht und viel Zeit miteinander verbracht, gemeinsam gekocht, auf der Terrasse gesessen.“Schuch sei ein großartiger Kollege, von dem er schauspielerisch viel lernen konnte.
Als die Mauer und damit Krusos persönliches Paradies bröckeln, hält Ed zu ihm – bis zur Selbstaufopferung. „Kruso rettete Ed – wer weiß, was ihm sonst passiert wäre. Ich denke, Ed will sich dafür revanchieren.“Die beiden erinnern Berlin an ein altes Ehepaar, bei dem einer den anderen pflegt. „Das habe ich mir beim Dreh häufig gedacht.“
Im April war Jonathan Berlin mit dem New Faces Award der als bester Nachwuchsschauspieler für seine Rolle in „Die Freibadclique“geehrt worden. Kürzlich erhielt er den Deutschen Schauspielpreis in der Kategorie Nachwuchs für seine Leistung im selben Drama, das von einer Gruppe Jugendlicher im Dritten Reich handelt. Bei der Verleihung sagte er: „Als wir den Film im Sommer 2016 gedreht haben, da hätte ich es ehrlich gesagt nicht für möglich gehalten, dass zwei Jahre später in genau demselben Land Hetzjagden auf Ausländer stattfinden, jüdische Restaurants überfallen werden und unverhohlen Hitlergrüße gezeigt werden.“Gegenüber unserer Zeitung bezeichnet er es als „elementare Aufgabe für Künstler“, politisch Stellung zu beziehen. Er habe den Eindruck, das geschehe immer mehr.
„Kruso“ermöglicht einen ungewohnten Blick auf einen winzig Ausschnitt der DDR – doch so klein das Objekt der Betrachtung, Krusos Reich auf Hiddensee, so klar ist der Einblick in die Gefühlswelt der Protagonisten. Jonathan Berlins Darstellung des umhertreibenden Ed ist ausgezeichnet, doch geht gegen Ende im Lärm des überzeichneten Irrsinns Krusos leider etwas unter.
„Ed und ich sind sehr suchend und dabei nachdenklich. Wir teilen den Drang, etwas Neues zu entdecken.“Schauspieler Jonathan Berlin über seine Rolle