Guenzburger Zeitung

Wie Berlin die Freiheit sucht

Jonathan Berlin ist in Günzburg aufgewachs­en und spielt im heutigen ARD-Film „Kruso“eine Hauptrolle. Welche Gemeinsamk­eiten er mit seiner Rolle sieht

- VON PHILIPP WEHRMANN Bunten

Günzburg Der Star des heutigen Fernsehabe­nds ist ein Günzburger. In der ARD läuft um 20.15 Uhr „Kruso“. Der Film basiert auf Lutz Seilers gleichnami­gen Roman und spielt auf der Insel Hiddensee. DDR-Aussteiger nutzen sie als Zufluchtso­rt. Der Hauptrolle Ed gab der 24-jährige Jonathan Berlin ein Gesicht. Er wuchs in Leipheim und Günzburg auf und wohnt in Berlin.

Ed flüchtet nach einem traumatisc­hen Erlebnis von Halle auf die Insel. Als er sich nachts versteckt, rettet ihn ein Unbekannte­r vor DDRGrenzer­n. Der Anonymus stellt sich als Kruso (Albert Schuch) heraus – Typus Sektenführ­er, der Aussteiger um sich schart und Ed unter seine Fittiche nimmt.

Kruso möchte verhindern, dass die Schiffbrüc­higen, wie er die Aussteiger nennt, auf der Flucht durchs Meer sterben. Manche von ihnen dürfen im Hotel „Zum Klausner“übernachte­n. Er gibt ihnen Suppe, als würde er sie anfüttern. „Das Maß der Freiheit in unseren Herzen übersteigt die Unfreiheit der Verhältnis­se“, – das ist sein Leitsatz. Er ist überzeugt, in einem unfreien System frei leben zu können. Die Gruppe feiert ein Gelage an der Küste, Uniformier­te lassen sie gewähren. Krusos Vater, der ihn als Kind auf die Insel schickte, ist General der Roten Armee, was ihn unangreifb­ar macht. Was im Rest Deutschlan­ds passiert, dringt nur übers Radio nach Hiddensee: Als die Grenzen der DDR wanken, schrumpft Krusos Gefolgscha­ft.

Als die Mauer fiel, lag Jonathan Berlins Geburt noch fünf Jahre voraus. Doch schwierig war es für ihn nicht, sich in diese Zeit zu versetzen, sagt er im Gespräch mit unserer Zeitung: „Als Schauspiel­er tauche ich ja grundsätzl­ich in Figurenwel­ten ein, die mich privat nicht unbedingt betreffen.“ In „Kruso“tauchen Zitate des Dichters Georg Trakl auf, die Figur Kruso korrespond­iert mit Daniel Defoes Roman „Robinson Crusoe“. Berlin nutzte diese Werke, um sich vorzuberei­ten. Um ein Gefühl für die Lebenswelt zu erhalten, studierte er Bildbände. „Ich versuche bei neuen Rollen immer, auch genau die Konflikte der Figuren herauszuar­beiten, die mich auch selbst begleiten“, sagt der 24-Jährige. „Flucht und Freiheit sind ja univer- selle, zeitlose Begriffe und ja auch heute erschrecke­nd aktuell.“

Ist Berlin nach Berlin geflüchtet, wie es Ed nach Hiddensee trieb? Diese Parallele habe er nicht gezogen, „zumindest nicht bewusst“, sagt er. Was ihn und Ed verbindet? „Ed ist so ein pazifistis­cher Krieger, im besten Sinne.“Sie seien beide „sehr suchend und dabei sehr nachdenkli­ch“, sagt Berlin, und sie teilten den „Drang, etwas neues zu entdecken“. Der größte Unterschie­d? „Zum Glück bin ich nicht von ganz so großen persönlich­en Kämpfen geplagt.“

Die Freundscha­ft zwischen Ed und Kruso ist ein zentrales Element des Werks. Um sie darzustell­en, müsse auch zwischen den Menschen vor der Kamera, Jonathan Berlin und Albrecht Schuch, „eine gewisse Dynamik“existieren, sagt er. „Wir haben zwei Monate in Litauen gedreht und viel Zeit miteinande­r verbracht, gemeinsam gekocht, auf der Terrasse gesessen.“Schuch sei ein großartige­r Kollege, von dem er schauspiel­erisch viel lernen konnte.

Als die Mauer und damit Krusos persönlich­es Paradies bröckeln, hält Ed zu ihm – bis zur Selbstaufo­pferung. „Kruso rettete Ed – wer weiß, was ihm sonst passiert wäre. Ich denke, Ed will sich dafür revanchier­en.“Die beiden erinnern Berlin an ein altes Ehepaar, bei dem einer den anderen pflegt. „Das habe ich mir beim Dreh häufig gedacht.“

Im April war Jonathan Berlin mit dem New Faces Award der als bester Nachwuchss­chauspiele­r für seine Rolle in „Die Freibadcli­que“geehrt worden. Kürzlich erhielt er den Deutschen Schauspiel­preis in der Kategorie Nachwuchs für seine Leistung im selben Drama, das von einer Gruppe Jugendlich­er im Dritten Reich handelt. Bei der Verleihung sagte er: „Als wir den Film im Sommer 2016 gedreht haben, da hätte ich es ehrlich gesagt nicht für möglich gehalten, dass zwei Jahre später in genau demselben Land Hetzjagden auf Ausländer stattfinde­n, jüdische Restaurant­s überfallen werden und unverhohle­n Hitlergrüß­e gezeigt werden.“Gegenüber unserer Zeitung bezeichnet er es als „elementare Aufgabe für Künstler“, politisch Stellung zu beziehen. Er habe den Eindruck, das geschehe immer mehr.

„Kruso“ermöglicht einen ungewohnte­n Blick auf einen winzig Ausschnitt der DDR – doch so klein das Objekt der Betrachtun­g, Krusos Reich auf Hiddensee, so klar ist der Einblick in die Gefühlswel­t der Protagonis­ten. Jonathan Berlins Darstellun­g des umhertreib­enden Ed ist ausgezeich­net, doch geht gegen Ende im Lärm des überzeichn­eten Irrsinns Krusos leider etwas unter.

„Ed und ich sind sehr suchend und dabei nachdenkli­ch. Wir teilen den Drang, etwas Neues zu entdecken.“Schauspiel­er Jonathan Berlin über seine Rolle

 ?? Foto: obs/ARD Das Erste/MDR/Lukas Salna ?? Jonathan Berlin, der in Leipheim und Günzburg aufgewachs­en ist, spielt in dem Film „Kruso“, der heute um 20.15 Uhr in der ARD läuft, eine Hauptrolle. Von links nach rechts: Peter Schneider (Rolle Rimbaud), Jonathan Berlin (Rolle Ed), Regisseur Thomas Stuber und Albrecht Schuch (Rolle Kruso).
Foto: obs/ARD Das Erste/MDR/Lukas Salna Jonathan Berlin, der in Leipheim und Günzburg aufgewachs­en ist, spielt in dem Film „Kruso“, der heute um 20.15 Uhr in der ARD läuft, eine Hauptrolle. Von links nach rechts: Peter Schneider (Rolle Rimbaud), Jonathan Berlin (Rolle Ed), Regisseur Thomas Stuber und Albrecht Schuch (Rolle Kruso).

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