Wie die Politik die Insekten entdeckt hat
Hintergrund Etliche Jahre interessierte das Bienen- und Insektensterben in den Kreisen der Politik nur die Umweltfachleute. Jetzt hat die Große Koalition das Thema zu einem Hauptanliegen erklärt. Dass es dazu kam, liegt vor allem an einem Verein
Auch in der Politik gibt es Moden. Der Schutz der Bienen etwa, er liegt der Bundesregierung „besonders am Herzen“– so steht es wortwörtlich im Koalitionsvertrag. Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner bezeichnete die Bienen in ihrer Regierungserklärung sogar als „systemrelevant“. Die CDU-Politikerin forderte: „Was der Biene schadet, muss vom Markt.“Die SPD-Umweltministerin Svenja Schulze legt jetzt ein großes „Aktionsprogramm Insektenschutz“vor. Die Grünen plakatieren im Wahlkampf „Ich will die Bienen retten!“. Dass das Thema nach oben rückt, ist aus NaturschutzSicht dringend notwendig. Und es ist kein Zufall.
Die Spur führt nach Krefeld, zu einem Verein für Insektenkunde. In dem ehemaligen Schulhaus riecht es nach Papier, Holz, Staub. Mikroskope, Waagen und Messbehälter stehen auf Holztischen, alte Bücher an der Wand strahlen Würde aus. In zahllosen Kästen stecken Insekten auf feinen Nadeln. Die gesamte Sammlung steht unter Denkmalschutz. Hier entstand eine Studie, die weltweit Aufsehen erregt hat – und in Deutschland etwas ins Rollen brachte. Die Kernaussage: Die Zahl der Fluginsekten ist in Teilen Deutschlands erheblich zurückgegangen. In den vergangenen 27 Jahren nahm die Gesamtmasse um mehr als 75 Prozent ab. Das belegen Daten, die der Entomologische Verein Krefeld seit 1989 gesammelt hat. Die Forscher werteten in 63 Gebieten in Nordrhein-Westfalen, RheinlandPfalz und in Brandenburg sogenannte „Malaise-Fallen“aus, zeltartige Netze, in denen Fluginsekten in einen Sammelbehälter geleitet und von Alkoholdämpfen benebelt in einer hochprozentigen Flüssigkeit getötet und gesammelt werden.
Dass die Insektenforscher 1987 begannen, die Insekten-Biomasse im Ganzen zu erfassen, war pragmatisch: Die zehntausenden Fluginsekten, die in den Behältern landen, ließen sich schlicht nicht alle zählen, sortieren und bestimmen.
Die Krefelder Forscher konnten sich vor Anfragen kaum retten, seit ihre Studie vor einem Jahr in der Fachzeitschrift Plos One erschienen ist. 80 Prozent der Fach- und Medienanfragen kamen aus dem Ausland, wie Vorstandsmitglied Martin Sorg sagt, ein schlanker Mann mit langen grauen Haaren und runder John-Lennon-Brille. Der Ansturm sei für einen Verein mit 63 Mitgliedern kaum zu bewältigen gewesen. Der Einfluss ist auch messbar: Die Studie landete unter elf Millionen publizierten wissenschaftlichen Arbeiten in dem angesehenen Ranking des Daten-Dienstleisters Altmetric auf Platz 35. „Damit haben wir in dieser Form nicht gerechnet“, sagt Sorg. „Entomologen kennen diese seit Jahrzehnten. Wir dachten, dass wir mit der Mengenmessung und dieser Methodik lediglich einen sehr wichtigen Aspekt zusätzlich dazugeben.“Stattdessen verbreitet sich die Sorge um Insekten schnell in ganz Deutschland. Die Beobachtung, dass kaum noch Fliegen auf der Windschutzscheibe kleben, ist zum Small-Talk-Thema geworden.
Das erkennt auch die Bundesumweltministerin an. Und dafür habe man zu danken, sagte sie, als sie bei ihrer Sommerreise in Krefeld vorbeischaute und im Juli einen Zuwendungsbescheid über 150000 Euro für weitere Forschungen überreichte. Das Geld war sehr willkommen beim Entomologischen Verein, dessen Arbeit zwar projektbezogen von vielen Stellen gefördert wird, etwa vom Bundesamt für Naturschutz und Universitäten, der aber über keine institutionelle Finanzierung verfügt. „Die komplette Vereinsarbeit läuft natürlich ehrenamtlich, auch die Archivbetreuung“, sagt Vereinsmann Sorg.
Als Hobby-Forscher sieht er sich und seine Kollegen aber nicht. Etwa ein Drittel der Vereinsmitglieder bestehe aus an der Uni ausgebildeten Wissenschaftlern. Ein weiteres Drittel habe keinen akademischen Abschluss, aber viel Erfahrung in der Insektenkunde. Das dritte Drittel befinde sich sozusagen in der Ausbildung. Ein Arzt, der in seiner Freizeit bei Ärzte ohne Grenzen arbeite, sei ja auch kein Hobby-Mediziner, sagt Sorg. Er sieht den Verein eher als einen Vermittler zwischen universitärer Forschung und LaienRückgangstrends Wissenschaft. In Deutschland gebe es rund 33000 Insektenarten. 7444 seien für die Rote Liste schon ausgewertet, im Sommer kämen wieder neue hinzu. Das Thema ist kaum zu überschätzen: Wenn Insekten als Bestäuber und als Nahrung wegfallen, bringt das ganze Ökosysteme aus dem Gleichgewicht.
An diesem Mittwoch nun stellte SPD-Umweltministerin Schulze die Regierungspläne vor: Für den Schutz von Bienen und anderen Insekten will die Bundesregierung jetzt hundert Millionen Euro im Jahr bereitstellen, wobei ein Viertel in die Forschung fließen soll. Zudem sollen die Regeln fürs Düngen und den Pestizideinsatz verschärft werden. „Das Insektensterben zu stoppen, ist eine zentrale politische Aufgabe unserer Zeit“, betonte Schulze. „Wenn wir dem Insektensterben nicht bald Einhalt gebieten, gefährden wir nicht nur unsere Vogelwelt und die Natur insgesamt, sondern auch unsere Landwirtschaft und andere Wirtschaftszweige.“
Schulze schlägt unter anderem vor, das Düngen von Ackerstreifen, die an wichtige Insektenlebensräume grenzen, zu verbieten, und in anderen Gebieten das Düngen einzuschränken. In ökologisch besonders schutzbedürftigen Bereichen will das Ministerium Pflanzenschutzmittel verbieten. Glyphosat solle nur noch zum Einsatz kommen, „wo und soweit dies absolut nicht anders geht“. Das Programm muss aber noch mit dem Bundeslandwirtschaftsministerium abgestimmt werden, das etwa für den Ausstieg aus dem Unkrautgift Glyphosat zuständig ist. Auch die Bürger können sich zu Wort melden: Bis zum 7. November kann jeder die Vorschläge online kommentieren und weitere Anregungen machen.
Teresa Dapp, dpa; AZ
Die Bundesbürger müssen ab Januar tiefer in die Tasche greifen, um die Pflegeversicherung zu finanzieren. CDU-Bundesgesundheitsminister Jens Spahn betont, die Gesellschaft müsse eine menschenwürdige Pflege ermöglichen und deshalb bereit sein, mehr Geld in das System fließen zu lassen. Politisch ist der Zeitpunkt dafür günstig, denn die meisten Arbeitnehmer werden vom nun geplanten Anstieg des Pflegebeitrags um 0,5 Punkte auf 3,05 Prozent des Bruttoeinkommens wenig spüren.
Denn bereits vor drei Wochen hat das Kabinett beschlossen, dass der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung zu Jahresbeginn 2019 um 0,5 Prozentpunkte auf dann 2,5 Prozent sinken wird. Der Beitragssatz der gesetzlichen Rentenversicherung bleibt mit 18,6 Prozent stabil. Er war Anfang 2018 um 0,1 Punkte gesenkt worden. Zudem hat die Koalition im Juni eine sogenannte „Beitragsparität“bei den Krankenkassen beschlossen: Künftig müssen Arbeitgeber wieder genau die Hälfte des Kassenbeitragssatzes zahlen, Arbeitnehmer werden insgesamt um diese im Schnitt 0,5 Prozentpunkte entlastet. Anders als die Arbeitnehmer haben die meisten Rentner jedoch nichts von der Entlastung und spüren die Pflegebeitragserhöhung bei der Rentenauszahlung ab 2019.
Auch Gutverdiener trifft die Erhöhung etwas mehr: Die Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung, bis zu der Beiträge fällig sind, steigt im kommenden Jahr von 4425 auf 4537,50 Euro im Monat. In der Renten- und Arbeitslosenversicherung steigt sie von 6500 auf 6700 Euro im Westen. (AZ)