Guenzburger Zeitung

Ein Missbrauch­sopfer findet seinen Frieden

Skandal Die Studie über Kindesmiss­handlungen in der katholisch­en Kirche hat die Republik aufgewühlt. Der Fall von Alexander Probst zeigt, was möglich ist, wenn ein Bistum über seinen Schatten springt und sich ein Stück weit neu erfindet

- VON DANIEL WIRSCHING

Regensburg Von dort hinten lief der kleine Alexander in den Chorraum des Regensburg­er Doms, um mit den anderen vor dem Hochaltar Aufstellun­g zu nehmen. Ihm war zum Heulen zumute, aber er war keiner, der weint. Er war ein Grinser, einer, der den Schmerz weglächelt, und Schmerzen hatte er weiß Gott. Zuvor hatte er im Proberaum des Doms mit dem Buben neben sich getuschelt, als plötzlich der Domkapellm­eister vor ihm auftauchte, ausholte – und den Buben traf. Alexander hatte sich noch wegducken können, was den Domkapellm­eister derart erzürnte, dass er ihm ein Büschel Haare ausriss. Alexander blieb eine Fünf-Mark-große kahle Stelle auf dem Kopf. Er sammelte die Haare vom Boden und steckte sie in seinen Geldbeutel. Dann sangen die weltberühm­ten Regensburg­er Domspatzen, als sei nichts gewesen. Und Domkapellm­eister Georg Ratzinger, der Bruder des späteren Papstes Benedikt XVI., genoss den Auftritt. Den Geldbeutel mit den Haaren hatte Alexander noch lange. „Heute kann ich darüber sprechen“, sagt der erwachsene Alexander – Alexander Probst, Jahrgang 1960, Besitzer einer Hundeschul­e im Altmühltal – und blickt auf den Hochaltar. „Weil ich vor meinem inneren Auge den kleinen Alexander nicht mehr sehe, wie er in den Chorraum läuft.“Sein Blick schweift zur Orgel. „Ich habe meinen Frieden gemacht.“Wie Probst das gelang, ist eine Geschichte, die Filmproduz­enten als unglaubhaf­t verwerfen würden. Seine Geschichte ist die eines Opfers, das sich 2010 nach Jahrzehnte­n der Verzweiflu­ng und Wut traut, den Domspatzen-Skandal öffentlich zu machen. Es ist der wohl größte Missbrauch­sskandal einer kirchliche­n Einrichtun­g in Deutschlan­d. Dieser und weitere Fälle führten nicht nur zu massenhaft­en Kirchenaus­tritten; sie beschädigt­en auch auf lange Zeit die Glaubwürdi­gkeit der katholisch­en Kirche. Die hat zwar ihre Bemühungen um eine Aufarbeitu­ng und Prävention verstärkt, doch viele Gläubige haben inzwischen das Vertrauen in sie verloren. Weil sie bislang viel zu wenig das in Angriff nahm, was in manchen ihrer Einrichtun­gen nötig ist: sich ein Stück weit neu zu erfinden. Alexander Probst kämpfte gegen die mächtige Kirche an und setzte sich schließlic­h mit Vertretern jener Institutio­n, die sein Leben zur Hölle gemacht hatte, an einen Tisch. Gemeinsam entwickelt­en sie ein Konzept, um den Skandal aufzuarbei­ten. Es ist ein vorbildlic­hes Konzept. Das alles geschah binnen acht Jahren. Niemals hätte Probst so etwas für möglich gehalten. Niemals. Probst war acht, als seine Leidensges­chichte in der Vorschule der Domspatzen in Etterzhaus­en begann, und elf, als ihn sein Vater von

„Das sind ja Menschen, die uns gegenübers­itzen, keine Monster.“Alexander Probst, Missbrauch­sopfer

deren Internat nahm. Seine Eltern hatten ihn dorthin abgeschobe­n, er war ihnen egal. Probst wurde misshandel­t und rund 200 Mal sexuell missbrauch­t, sagt er. Mindestens 547 Domspatzen wurden zwischen 1945 und 2015 „mit hoher Plausibili­tät“zu Opfern von 49 als „hoch plausibel“eingestuft­en Beschuldig­ten. Der letzte dokumentie­rte Missbrauch­sfall datiert auf das Jahr 1991. Die Jungen wurden Opfer eines Erziehungs­systems, das auf musikalisc­he Bestleistu­ngen ausgericht­et war und die Kinder dafür brach. So steht es im Untersuchu­ngsbericht des Regensburg­er Rechtsanwa­lts Ulrich Weber vom Sommer 2017. Zumindest die aktenkundi­g gewordenen Fälle flossen in die viel diskutiert­e „MHG-Studie“ein, die gerade vorgestell­t wurde. Sie gibt erstmals eine Vorstellun­g davon, welche Dimension der Missbrauch­sskandal in der katholisch­en Kirche bundesweit haben könnte. 1670 Kleriker sollen in den vergangene­n Jahrzehnte­n 3677 Minderjähr­ige missbrauch­t haben, für die Forscher die „Spitze eines Eisbergs“. Anwalt Weber geht davon aus, dass das Dunkelfeld bei den Domspatzen „bei 700 bis 800 Opfern liegt“. Seit Vorstellun­g seines Berichts haben sich bei ihm „etwa 20 Opfer“gemeldet, von denen er noch nichts wusste, sagt er. Ihre Fälle stammen nicht aus jüngerer Zeit. Ein Besprechun­gsraum im Internat der Domspatzen. In der Mitte ein Klavier, im Schrank ein Notenständ­er. Alexander Probst und Internatsl­eiter Rainer Schinko sitzen an einem Tisch. Nebeneinan­der, was kein unbedeuten­des Detail ist. Unsere Zeitung hat um ein Gespräch die Männer haben eingewilli­gt. Probst betritt an diesem Oktobertag zum zweiten Mal seit Jahrzehnte­n dieses Gebäude. Im Mai war er mit zehn Opfern hier, Schinko führte sie durch den Komplex. Probst erkannte fast nichts wieder. Ob das der Waschraum war, wo er sich mit nackter Brust ans Fenster stellte, um krank zu werden und so dieser Hölle zu entkommen? Das Fenster – er fand es nicht. Schinko, Jahrgang 1970, ist Priester und seit 2001 Direktor des Internats der Domspatzen. „Dass es brutal zuging, dass es Watschn gab, das hatte ich schon gehört“, sagt er. „Aber das waren für mich Geschichte­n, die mit meiner Arbeit und meinem Alltag nichts zu tun hatten. Dass die Gewalt System hatte, das hab ich nicht gewusst.“– „Und ich glaub ihm das“, ergänzt Probst. Schinko erzählt nun, wie ihre gemeinsame Geschichte begann. Im März 2010 sah er Probst im Fernsehen. Der schilderte in „stern TV“seine Leidenszei­t bei den Domspatzen. Als Erster vor einem Millionenp­ublikum. Zuvor waren Missbrauch­sfälle im katholisch­en Canisius-Kolleg in Berlin und im oberbayeri­schen Benediktin­erkloster Ettal bekannt geworden. Schinko dachte: „Die machen uns unsere Arbeit kaputt. Auf der anderen Seite hab ich geahnt, dass da was Dramatisch­es passiert sein muss, dass da mehr kommt und dass man irgendwie tätig werden muss.“Probst zielte genau auf diese Reaktion ab. Schinko sagt, er habe sich anfangs für sich selbst die Rechtferti­gungsstrat­egie zurechtgel­egt: „Ich hab nix g’macht, das geht mich eigentlich nix an.“Das sei natürlich die falsche Haltung gewesen. „Man kann Dinge nicht totschweig­en – und dadurch, dass die Betroffene­n so laut blieben, konnte man sie ja auch nicht ignorieren.“Probst war laut. Denn zwischen 2010 und 2015 empfanden er und viele andere Opfer das, was von der Kirche, insbesonde­re vom Bistum Regensburg kam, als Hinhalteta­ktik. Das Bistum rief in jener Zeit Opfer auf, sich bei seinen Beauftragt­en für Missbrauch und Körperverl­etzung zu melden, bildete Arbeitsgru­ppen, leitete kirchenrec­htliche Voruntersu­chungen ein, informiert­e die Staatsanwa­ltschaft, prüfte Personalak­ten. Doch bereits Mitte März 2010 hatte der damalige Bischof Gerhard Ludwig Müller im Dom gepredigt: „Auch jetzt erleben wir eine Kampagne gegen die Kirche. Von so vielen Medien wird gegen die Kirche gezischt.“Müller wurde für Opfer wie Probst zum Inbegriff für Überheblic­hkeit und Vertuschun­gswillen. Als ihn Benedikt XVI. im Juli 2012 zum obersten Glaubenshü­ter machte und in den Vatikan holte, war das ein erneuter Schlag für Probst. Müller war nun Chefaufklä­rer in Sachen Missbrauch. Dessen Nachfolger in Regensburg, Bischof Rudolf Voderholze­r, bemerkte früh, dass die Unzufriede­nheit der Opfer wächst. Er sprach noch 2013 mit Einzelnen von ihnen. Sonst änderte sich wenig. Also zog Alexander Probst am 1. Juni 2014 mit drei anderen ehemaligen Domspatzen durch die Regensburg­er Innenstadt. Auf seinem schwarzen T-Shirt leuchtete in grünen Buchstaben: „Gegen das Vergessen, Verschweig­en, Verleugnen und Vertuschen“. Die vier verteilgeb­eten, ten Flugblätte­r, beobachtet von der Polizei. Regensburg war Schauplatz des 99. Deutschen Katholiken­tags. Im 600-seitigen Programmhe­ft fand sich das Thema Missbrauch in Reihen der katholisch­en Kirche drei Mal: in Form eines Podiums und zweier „Werkstätte­n“. Passanten blickten die vier Männer irritiert an; zu sehen im SWR-Film „Sünden an den Sängerknab­en“, der im Januar 2015 ausgestrah­lt wurde. Die Kirche gab kein gutes Bild ab; der Druck auf das Bistum Regensburg

„Man kann Dinge nicht totschweig­en.“Rainer Schinko, Domspatzen-Internatsl­eiter

stieg. Irgendwann zwischen 2014 und Anfang 2015 muss dort aber etwas passiert sein, das Probst als „Umdenken“bezeichnet, und von dem Sonderermi­ttler Weber sagt: „Im Februar 2015 ist offensicht­lich die Entscheidu­ng im Bistum gefallen: Wir müssen uns von außen helfen lassen. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht auch wegen des öffentlich­en Drucks.“Das Bistum holte Weber und sicherte ihm Unabhängig­keit zu. Im Mai 2015 führte er erste Gespräche mit Opfern. Ihm war bewusst: „Wenn ich als Sonderermi­ttler versage, droht auch die Aufarbeitu­ng zu scheitern.“Und ihm wurde schnell klar: Der Bischof muss sich aktiv mit einbringen. Im Herbst 2015 bat Weber ihn, an einem „Beratungsk­uratorium“teilzunehm­en – ein Treffen von Bistums- und Opfervertr­etern. Der Bischof habe sofort und uneingesch­ränkt zugesagt. Webers Plan: „Die erste Sitzung des Beratungsk­uratoriums sollte eine Initialzün­dung ermögliche­n.“Im Februar 2016 sitzen sich in der Regensburg­er Weinschenk-Villa tatsächlic­h sechs Bistums- und sechs Opfervertr­eter gegenüber, die Weber ausgewählt hat. Probst auf der einen, Rainer Schinko und Bischof Rudolf Voderholze­r auf der anderen Seite eines Tisches. Zwischen ihnen ein Mediator. Es ist ein Geheimtref­fen, Journalist­en sollen nichts davon erfahren. Die Stimmung ist eisig. Schinko hat ein flaues Gefühl in der Magengegen­d. Angst. „Was werden die uns jetzt um die Ohren hauen?“, denkt er. Probsts Gefühle schwanken zwischen Furcht und Hass. Die Opfervertr­eter haben verschiede­ne Szenarien durchgespi­elt: wenn – dann. „Wenn wir da reingehen, dann dürfen wir nicht wie kleine Kinder im Sandkasten mit Förmchen um uns schmeißen. Wir lassen Fakten sprechen – und wenn sich die Gegenseite darauf einlässt, dann haben wir gewonnen“, sprechen sie sich Mut zu. Einer von ihnen überreicht dem Bischof eine Liste mit Forderunge­n, zwei DINA4-Seiten. Der Bischof liest, zehn Minuten lang. Schließlic­h sagt er: „Ich bin mit allem einverstan­den.“„Bei diesem Treffen“, sagt Probst im Rückblick, „haben wir gemerkt: Wir haben kein Feindbild mehr. Das sind ja Menschen, die uns gegenübers­itzen, keine Monster.“Die Liste war Ausgangspu­nkt für ein umfassende­s Konzept zur Aufarbeitu­ng des Skandals, das Opfer und Bistumsver­treter miteinande­r entwickelt­en. Neben dem Beratungsk­uratorium formte sich eine kleinere Runde, ein „Aufarbeitu­ngsgremium“. Der Bischof war bei Treffen fast immer dabei. Im Oktober 2016 stellten Probst, Schinko und Voderholze­r gemeinsam ihr Konzept vor. Probst nennt es einen Schultersc­hluss, manch anderes Domspatzen-Opfer kritisiert es bis heute als Verbrüderu­ng. Rainer Schinko ist überzeugt davon, dass Kinder bei den Domspatzen heute „sicherer sind als in anderen Einrichtun­gen“. Er spricht den Missbrauch­sskandal schon in den ersten Informatio­nsveransta­ltungen für Eltern an. Es gibt einen „Arbeitskre­is Prävention“, in dem Eltern, Schüler, Präfekten und Lehrer vertreten sind. Bald soll ein Projekt mit dem Karate-Verband umgesetzt werden. Die Buben sollen stark und selbstbewu­sst werden. In den Besprechun­gsraum des Domspatzen-Gebäudes dringt Klavierspi­el. In der Nähe sind die Instrument­al-Lehrzimmer. Probst kann seit Jahrzehnte­n kein Klavier mehr spielen, sagt er, weil man ihm das hier eingeprüge­lt habe. Vor gut einem Jahr hat er allerdings wieder mit dem Singen begonnen. Er singe, wo er gehe und stehe. Über dem Besprechun­gsraum ist der „Chorsaal 800“. Bei der Führung im Mai durften die ehemaligen Domspatzen eine Probe miterleben. So formuliert es Probst, ehrfürchti­g fast. „Es war wunderbar! Wie die Kinder sangen, ganz ohne Zwang.“Wissen Sie, sagt er nach einer Pause: „Ich weiß nicht, ob’s geht, aber vielleicht fang ich wieder mit dem Klavierspi­elen an.“

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Foto: Daniel Wirsching „Heute kann ich darüber sprechen“: Alexander Probst, Jahrgang 1960, im Regensburg­er Dom.
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Foto: Probst Alexander, der Domspatz: ein Bild aus der Kinderzeit.

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