Ein treudeutsches Leben
Zeitgeschichte Wie der Erste Weltkrieg Menschen zu Maschinen machte – und die Liebe zu einer Günzburgerin auf dem „Feld der Ehre“erlosch
Günzburg Das Buchcover ist auffällig und kann auf den ersten Blick in die falsche Richtung führen. Die Titelseite ist horizontal gedrittelt und in den Farben Schwarz, Weiß und Rot gehalten. Das Deutschordenskreuz im Zentrum ist wie die Farben zentraler Bestandteil der Reichskriegsflagge. „Mit treudeutschem Gruß“lautet der Titel des Buches, das alles andere als nationalistische Propaganda serviert. Es sind Briefe von der Front, die Friedo Talg aus dem niedersächsischen Soltau vor über 100 Jahren an seine Familie geschickt hat. Einige wenige davon sind an ihn gerichtet – von Lizzy Leimer, einer Günzburgerin, die die geheim gehaltene Liebe des Frontsoldaten war.
Im Frühling 1916 hatte er die quirlige und selbstbewusste Lizzy in Augsburg kennengelernt. Dort arbeitete sie in einem Hutgeschäft – und Friedo Talg, der Sohn eines Schneidermeisters, wollte dort wohl Garn für das elterliche Geschäft in Soltau kaufen. Das Glück des Augenblicks währte nicht lange. Friedo Talg musste wieder an die Front und konnte seine wenigen Urlaube nicht nur bei der Frau verbringen, der sein Herz gehörte. Die Familie wartete in der Heimat auf ihn – und die Aussicht darauf, dass er im Jahr 1917 eine arrangierte Verlobung eingehen sollte.
Dazu kam es nicht, denn mit 26 Jahren wurde Talg, der als Infanteriebeobachter abgestellt war und Bewegungen der Franzosen melden sollte, erschossen. An der Schlacht an der Aisne nahm der junge Mann nicht mehr teil. Die Gräuel von Verdun hatte er überlebt, die Schlacht an der Somme – mit über einer Million Verwundeten, Vermissten und Getöteten das verlustreichste Gemetzel an der Westfront.
Der 20. April, der Geburtstag Adolf Hitlers, wurde im Jahr 1917 zum Todestag von Friedo Talg. Notdürftig wurden die sterblichen Überreste des Soldaten in Nordfrankreich irgendwo in der Nähe des Flusses Aisne an einem Tunnel verscharrt. Gefunden hat man bis heute nichts. Übrig blieb von dem lebensfrohen Mann „1 Taschentuch, 1 Geldbörse mit 67 M Inhalt und zwei Münzen, 1 Uhr mit Kette u. Gehäuse, 1 Armbanduhr, 1 Taschenmesser, 1 Spiegel, 1 Pfeife, 1 Pfeifenstopfer, 3 Notizbücher sowie div. Briefschaften“. So wurde der Nachlass des „auf dem Felde der Ehre gefallenen Gefreiten“in einem Schrei- ben an den Vater aufgeschlüsselt. Auf diese Weise erfuhr die Familie von der Günzburger Geliebten, zu der sie auch später nie Kontakt aufgenommen hat.
Caro Clement, die Autorin des aufrüttelnden Buches, tat das mit Herbert Schnitzler, dem Großneffen von Lizzy Leimer, die 1974 im Alter von 88 Jahren in Günzburg starb. 16 Jahre lang hat sich Clement, die in im Landkreis Augsburg lebt und unter einem Pseudonym schreibt, mit dieser Geschichte beschäftigt, ehe im Frühjahr 2018 das Buch erschienen ist. Damit erfüllte die gebürtige Soltauerin ein Versprechen, welches sie ihrer „Wahlgroßtante“(verwandt waren die beiden nicht im eigentlichen Sinne) 2002 gegeben hatte. Tante Luise, damals schon über 90 Jahre alt, wollte die Lebensgeschichte ihres Halbbruders Friedo aufbewahrt und aufgeschrieben wissen. „Mach was Gutes draus“, sagte sie Caro Clement und gab ihr eine Zigarrenkiste, die mit den Briefen des Halbbruders eng gepackt war. Abertausende Zeilen voller Gefühle: Hoffnung, Verzweiflung, Mut und Wut, Liebe und Zorn. Eine bessere Hüterin als Clement hätte die alte Dame nicht finLangerringen den können. Vielleicht wäre die kaputtgemachte Welt des Friedo Talg sonst irgendwo auf einem Flohmarkt gelandet oder in einer Altpapiertonne. Clement hielt sich an ihre Zusage und eignete sich an, die Sütterlinschrift lesen zu können. Sie tauchte in zwei Leben ein, die anfangs so weit weg zu sein schienen wie der Erste Weltkrieg; Leben, die „mir im Laufe der Jahre immer vertrauter wurden und denen ich inzwischen sehr nahe bin“.
Hochachtung hat die Buchautorin vor Lizzy Leimer, einem Mädchen aus einfachen Verhältnissen, 1886 unehelich geboren, aber bei ihrer Mutter und einem wohl verständnisvollen Stiefvater aufgewachsen. Volljährig geworden, machte sie sich im Alter von 21 Jahren nach Paris auf und wurde dort bei einer gut situierten Familie Gesellschaftsdame. Vor Ausbruch des Krieges war sie wieder zurück in der schwäbischen Heimat. Noch am 27. März 1917 schrieb sie an ihren „lieben Fritz“und bot an, ihre Stellung aufzugeben, um zu ihm nach Frankreich zu kommen. „Das müsste doch nett sein (...) ich würde Dich gleich aus Freude umfassen und herzlich küssen.“Sie bedankte sich für seine „lb. Photographie“und schrieb: „Ach wie gut bist Du getroffen, aber Bubi dein Bart gefällt mir nicht, sicher hast Du ihn nur aus Langweile stehen lassen.“Sie erfuhr nie wieder was über ihn. Keinen Monat später war der Geliebte tot. Die erwähnte Fotografie zeigt tatsächlich einen gebrochenen Menschen, dessen Schrift nicht mehr wie früher nach rechts oben gerichtet ist. Sie hat sich nach der Schlacht an der Somme quasi auf den Rücken gelegt, ist krakeliger geworden und mit mehr Rechtschreibfehlern behaftet.
Friedo Talg war, um seine Berufskentnisse zu erweitern, 1914 in der Schweiz unterwegs, als er seinen Einberufungsbefehl erhielt. Er durfte nicht mehr nach Hause – und musste sich umgehend in Augsburg melden. So kam der Norddeutsche zunächst zur bayerischen Artillerie und später zur Infanterie. Nach einem achttägigen Crashkurs in Augsburg wurde der Rekrut direkt an die Westfront verfrachtet. „Es war ganz und gar nicht der Hurra-Patriotismus, den ich erwartet habe“, sagt Caro Clement im Rückblick. Den jungen Mann trieb Pflichterfüllung. Talg tat das, was das Vaterland von ihm erwartete. Eigene Überzeugungen haben da Ruhepause.