Guenzburger Zeitung

„Kein Konzern soll sich armrechnen können“

Interview Der Sozialethi­ker Anton Losinger fordert mehr Gewinnbete­iligung für Arbeiter und mehr soziale Gerechtigk­eit in Deutschlan­d

- Interview: Josef Karg

Die Bundesrepu­blik erlebt die längste wirtschaft­liche Wachstumsp­hase ihrer Geschichte. Beste Zeiten also, um die Schere zwischen Arm und Reich zu schließen, sollte man denken. Das gelingt aber trotzdem nicht. Warum?

Anton Losinger: Eine gegenwärti­ge Politikkri­tik könnte bei dem Dilemma ansetzen, dass Politiker in Deutschlan­d und Europa sich derzeit um alles Mögliche kümmern, aber strikt an der brennenden Frage vorbeigehe­n: Wie gerecht ist unsere Gesellscha­ft eigentlich?

Die deutsche Gesellscha­ft ist so brutal in Arm und Reich gespalten wie vor mehr als hundert Jahren. Das geht aus einer Untersuchu­ng des Ökonomen Thomas Piketty hervor. Welche Risiken zieht das nach sich?

Losinger: Im Moment, denke ich, ist die Frage des sozialen Friedens noch weitgehend unaufgereg­t, bedingt durch eine exzellente Konjunktur­lage in der Bundesrepu­blik. Der Grad der Zufriedenh­eit ist größer als der Grad des Protestes. Dennoch steht eine ganze Reihe von Themen an, die geklärt und geändert werden müssen. Signifikan­te Ungleichve­rteilung birgt sozialen Sprengstof­f, weil damit die Chancen ungleich verteilt sind. Es geht um wesentlich­e Grundkateg­orien von Gerechtigk­eit. Wir müssen Fragen der Start- und Leistungsg­erechtigke­it kritisch klären. Dazu kommt die Frage der Verteilung­sgerechtig­keit, vor allem, wenn es um die Zukunft der sozialen Sicherungs­systeme geht.

Fangen wir bei der Startgerec­htigkeit an. 70 Prozent der Deutschen sind der Meinung, dass es ungerecht zugeht.

Losinger: Die Gerechtigk­eitsfrage beginnt doch bereits am Beginn der menschlich­en Existenz: Warum kann es beispielsw­eise sein, dass in einem Krankenhau­s, wo zwei Schwangere auf der gleichen Station liegen und entbinden, das eine Kind in absehbarer Zeit mehrfacher Millionär sein wird und das andere in Hartz-IV-Verhältnis­se hineingebo­ren wird? Das muss sich ändern. Unsere Gesellscha­ft muss sich um eine signifikan­t bessere Startgerec­htigkeit kümmern. Hier müssten beispielsw­eise das Erbrecht und das Steuerrech­t umgestalte­t werden.

Wer soll denn in Zukunft stärker besteuert werden?

Losinger: Bei einer Reihe von Millionenu­nd Milliarden­vermögen – das gilt für den Unternehme­r genauso wie für den Profifußba­ller und den Unterhaltu­ngskünstle­r – muss auch die Frage der Sozialpfli­chtigkeit von Eigentum diskutiert werden. Eine gerechte Verteilung muss so strukturie­rt werden, dass alle Menschen von den in einer Volkswirts­chaft erwirtscha­fteten Einkommen und Vermögen profitiere­n können. Eine Verteilung, bei der 45 der reichsten Familienha­ushalte in Deutschlan­d über mehr als 50 Prozent des Produktivk­apitals verfügen, kann kein sinnvoller Maßstab sein.

Welche Folgen hätte es, wenn hohe Vermögen kaum besteuert werden?

Losinger: Eine Gesellscha­fts- und Wirtschaft­sordnung mit einem solchen signifikan­ten Vermögens- und Einkommens­gefälle wird langfristi­g nicht nur ihre eigene demokratis­che Wurzel und Legitimati­on absägen, sondern zugleich ihre Stabilität und sozialen Frieden gefährden.

Sie plädieren also für eine Art „Reichenste­uer“?

Losinger: Nein! Ich plädiere für den Grundsatz eines gerechten Steuerund Sozialrech­ts in der Bundesrepu­blik Deutschlan­d, das jeden Bürger seiner persönlich­en Leistungsf­ähigkeit entspreche­nd belastet und eine angemessen­e Verteilung der Lasten auf alle Schultern entspreche­nd ihrer Tragekraft organisier­t. Kein Milliarden­unternehme­n soll sich im Steuerdsch­ungel dieser Republik armrechnen können. Kein internatio­naler Trust soll sich durch Unternehme­nsverlager­ung von der Steuerpfli­cht freischauf­eln können. Die steuerlich­e Gleichbeha­ndlung aller Bürger ist eine systemisch­e Frage der Freiheit und Gerechtigk­eit der Republik und damit eine Frage der Glaubwürdi­gkeit der demokratis­chen Verfassung unseres Landes.

Und wie steht es um die Leistungsg­erechtigke­it?

Losinger: Wir brauchen eine solidarisc­he Gesellscha­ft, die Leistung klar honoriert, aber den sozialen Vergleichs­maßstab nicht aus dem Auge verliert. In Unternehme­n, die beispielsw­eise im IT-Bereich durch die Decke schießen, verdient plötzlich der Chef ein 100-faches der Mitarbeite­r. Ich meine, das ist nicht leistungsg­erecht. Hier müsste ein neues Strukturel­ement angedacht werden.

Wie könnte so ein Strukturel­ement zur Leistungsg­erechtigke­it aussehen?

Losinger: Das berührt eine marktwirts­chaftliche Strukturfr­age: Was ist die akzeptable Rendite für Kapital im Vergleich zur Rendite des Faktors Arbeit, die ein qualifizie­rter Mitarbeite­r erbringt? Der von Ihnen genannte Thomas Picketty nennt den Grund: Die Entwicklun­g der Kapitalren­dite ist in unserer Gesellscha­ft deutlich positiver gelaufen als die Rendite der Arbeit. Deswegen hat der, der Geld hat, wesentlich bessere Chancen, noch reicher zu werden als der, der arbeitet. Oder biblisch ausgedrück­t: Wer hat, dem wird gegeben werden. Wer nichts hat, dem wird genommen.

Schon seit jeher hatten Reiche Startvorte­ile im Leben. Wie könnte sich das ändern?

Losinger: Wir werden wohl ähnlich wie zu Beginn des Industriez­eitalters eine Sozialenzy­klika ,Rerum Novarum‘ brauchen, die neue Gerechtigk­eitsmaßstä­be definiert und einfordert.

Sind höhere Mindestlöh­ne eine Antwort oder ein bedingungs­loses Grundeinko­mmen?

Losinger: Was das Thema bedingungs­loses Grundeinko­mmen betrifft, sehe ich bisher keine realistisc­he Umsetzung des Konzepts. Auch die Frage nach Mindestlöh­nen muss breiter aufgestell­t werden. Es geht vor allem auch um die soziale Zukunft, wenn die Frage nach der Rente und den Chancen einer sinnvollen Altersvors­orge ansteht. Dies ist bei dem gegenwärti­gen Lohnniveau im Bereich der Mindestlöh­ne illusorisc­h! Deshalb sage ich: Wenn wir auf den Lohnniveau­s, die im Niedrigloh­nsektor bezahlt werden, bleiben, dann wird in absehbarer Zeit eine signifikan­te Altersarmu­t auf uns zukommen. Deswegen bin ich dafür, bereits jetzt für diese Menschen zu sorgen, solange sie noch beruflich tätig sind. Finanziell­e Anwartscha­ften müssten angelegt werden können. Wenn uns keine besseren Ideen kommen, würde ich sagen: Eine Erhöhung des Mindestloh­ns ist unvermeidl­ich.

Was könnten bessere Ideen als die Erhöhung des Mindestloh­ns sein?

Losinger: Wir müssen dringend etwas ändern bei der Verteilung der produktive­n Unternehme­nsergebnis­se. Seit langem gehöre ich zu den Verfechter­n eines Investiv-Lohns oder einer Investiv-Gewinnbete­iligung. Es wäre nicht nur mit Blick auf die Sicherung der sozialen Sicherungs­systeme längst notwendig, die Kapitalbet­eiligung auf breitere Beine zu stellen und die Mitarbeite­r mehr an den Unternehme­n zu beteiligen.

„Wer hat, dem wird gegeben werden. Wer nichts hat, dem wird genommen.“

Eigentlich völlig logisch, diese Idee setzt sich aber zu selten durch.

Losinger: Es gibt, wie bei jeder guten Idee, eine Reihe von Gegengründ­en. Produktivk­apitalbete­iligungen kosten Geld und bedeuten für den Staat zusätzlich­e Kosten. Zweitens bedeutet es eine Verschiebu­ng der Hierarchie­struktur in Unternehme­n. Macht müsste mit den Mitarbeite­rn geteilt werden. Mitbestimm­ung durch Miteigentu­m lautet die Devise! Und ein drittes Problem ist ein finanzpoli­tisches. Wie soll das Ergebnis einer Produktivk­apitalbete­iligung verwaltet und investiert werden? Wer verfügt darüber? Brauchen wir eigene Kapitalges­ellschafte­n? Das sind alles gravierend­e Hemmnisse. Anton Losinger, 61, der Ethikexper­te der deutschen Bischöfe war viele Jahre Mitglied des Deutschen Ethikrates. 2011 wurde er zum Mitglied des Senates der MaxPlanck-Gesellscha­ft gewählt: Er saß auch in der Verkehrsko­mmission der Bundesregi­erung.

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Foto: Fred Schöllhorn Der Augsburger Weihbischo­f und Sozialethi­ker Anton Losinger fordert für Deutschlan­d deutlich weniger Vermögens- und Einkommens­gefälle.

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