Hörer sollen nicht wegklicken
Wie die Musikwirtschaft die Popmusik beeinflusst
Berlin/Wien Es gibt da welche, die unsere Musikvorlieben sehr gut kennen. Die uns zum Joggen eine Playlist mit der Musik vorschlagen, zu der wir uns am liebsten bewegen. Die uns mit Liedern versorgen, die uns am ehesten zum Aufstehen bringen. Es sind Streaming-Anbieter wie Spotify und Apple Music, die immer mehr Playlisten für alle möglichen Stimmungen und Genres im Angebot haben. Inzwischen ist Streaming in Deutschland der beliebteste Weg, um Musik zu hören – und die Anbieter reagieren darauf.
Das hat aber nicht nur wirtschaftliche Auswirkungen. Streaming kann auch die Art verändern, wie Musik geschrieben und gehört wird. Durch Datenanalysen ihrer gestreamten Musik können Labels sehen, wann ein Hörer wegklickt – und reagieren. „Musik wird anders geschrieben, seit das Streaming so wichtig ist“, erklärt der Musikwissenschaftler Martin Lücke. Zum einen sei der Anfang eines Liedes noch wichtiger geworden, da die Labels nur an einem Stream verdienen, wenn die Hörer einen Song länger als 30 Sekunden hören. „Also versuche ich als Label, alles dafür zu tun, dass der Hörer nicht wegklickt“, so Lücke, der an einer Berliner Hochschule lehrt.
Die Musiker sind mit solchen Aussagen zurückhaltender. Der deutsche DJ Felix Jaehn, dessen Remix des Liedes „Cheerleader“von OMI ein Hit war, sagt, er mache sich beim Musikproduzieren von solchen Überlegungen frei. „Ich muss allerdings sagen, dass die meisten meiner Songs ziemlich schnell auf den Punkt kommen und oft schon im Intro eine Hook [eingängige Melodie-Phrase] haben“, ergänzt er. Lücke erzählt von Studien, die angeblich zeigen, dass der Gesang bei Popliedern inzwischen immer früher einsetzt, um möglichst schnell die Aufmerksamkeit der Hörer zu erregen. Früher habe es Hits gegeben, die erst nach langen Intros richtig loslegten – zum Beispiel „I’d do anything for love“von Meat Loaf.
Neben dem Anfang eines Pop-Hits ist die Stimmung eines Liedes außerordentlich wichtig. „Ich komme nach Hause und sage zu Siri oder einem anderen Smart Speaker: „Jetzt spiel mir Chill-outMusik“, meint Peter Tschmuck, der an der Uni für Musik und darstellende Kunst in Wien lehrt. Der Großteil der Konsumenten sei nicht so sehr daran interessiert, von wem ein bestimmter Song ist. So werden Lieder, die zu bestimmten Stimmungen passen, von Redakteuren oder Algorithmen Playlisten zugeordnet. Was die Relevanz betrifft, sind Playlisten die neuen Alben, da sind sich Lücke und Tschmuck sicher.
Für Labels ist es also wichtig, Eingang in die Playlisten zu finden. „Es hat sich sehr schnell gezeigt, dass die Playlists ganz wichtige Tastemaker sind“, sagt Tschmuck. Klar werde man von den Labels kontaktiert und stehe in Kontakt mit ihnen, erklärt dazu Maik Pallasch, Leiter der deutschen SpotifyMusikredaktion. „Aber man kann als Lizenzgeber nicht bestimmen, ob und was in die Spotify-Playlists kommt.“Ein Sprecher von Apple Music wiederum möchte zur konkreten Zusammenarbeit mit Labels keine Angaben machen, betont aber ebenfalls die Unabhängigkeit der Redakteure, die die Playlisten bestücken.
Mittlerweile gibt es tausende von kuratierten Listen, dazu Playlists, die durch Algorithmen Musik vorschlagen. Daraus könnte sich eine Art Eigendynamik entwickeln: „Manche Songwriter haben beim Komponieren womöglich den Sound eines bestimmten, bei den Streaming-Anbietern beliebten Genres im Kopf“, überlegt Lücke. „Und es wird auf jeden Fall Versuche der Labels geben, Künstler zu suchen, die in bestimmte Playlisten passen.“Wird sich Popmusik also immer ähnlicher? So weit möchte die Experten nicht gehen. Dieser Vorwurf sei so alt wie die Popmusik, sagt Tschmuck. Felix Jaehn ist sich sicher: „Musik funktioniert nicht nach Mustern, Formeln oder logischem Denken.“Und auch Lücke sieht es ähnlich. Man könne zwar viel berechnen, aber am Ende gibt es im Pop immer noch den Faktor des Unbekannten – zum Glück.“