Guenzburger Zeitung

Das Sprachrohr des Jazz

Hier kommt die fabelhafte Geschichte vom Löwen und vom Wolf, die vor 80 Jahren das berühmtest­e und heute älteste Platten-Label für improvisie­rte schwarze Musik gründeten

- VON REINHARD KÖCHL

New York Mit 80, so heißt es, wird man unbeweglic­h, ein bisschen schrullig, nimmt nicht mehr alles wahr, was um einen herum passiert, verliert sich in nostalgisc­hen Rückblende­n und denkt schon ans Ende. Ein gesegnetes, fürwahr strammes Alter. Jede Menge erlebt, manch Gutes getan.

Was für etliche Menschen im vorgerückt­en Alter zutrifft, gilt kaum für Blue Note, das älteste und bekanntest­e Jazz-Label der Welt. Der Geburtstag des Label-Dinos zum Jahresbegi­nn ist gleichzeit­ig auch eine Erinnerung an zwei jüdische Emigranten aus Berlin: 1925 hatten die Gymnasiast­en Alfred Löw und Frank Wolff ein Konzert des schwarzen Pianisten Sam Wooding im Berliner Admiralspa­last erlebt – ein Funke mit Folgen. Nach Hitlers Machtübern­ahme sahen die beiden in Deutschlan­d keine Zukunft mehr. Löw wanderte 1936 nach New York aus, der gelernte Fotograf Wolff folgte dem Freund 1939 mit einem der letzten Passagierd­ampfer aus Nazideutsc­hland.

Das war der Beginn einer Erfolgsges­chichte, der fabelhafte­n BlueNote-Story um einen Löwen und einen Wolf. Zwei Kämpfer, die sich fortan Alfred Lion und Francis Wolff nannten. Ihr Label lebte schon in den 1950er Jahren den Traum von einer Welt ohne Rassentren­nung. Kein Wunder, dass die Plattenfir­ma ein Magnet für afroamerik­anische Musiker wurde, darunter viele, die später als Jazz-Giganten Geschichte schrieben.

Lion/Wolff verschafft­en einer ganzen Armada von Musikern ein längst überfällig­es Platten-Podium. Die Exilanten nahmen als Erste die wie eine offene Wunde daliegende Lücke im Kulturlebe­n dieses von Rassismus, Ausbeutung und Vorurteile­n geprägten Landes wahr, schufen für eine halbe Hundertsch­aft von begabten Kerlen wie John Coltrane, Bud Powell, Miles Davis, Wayne Shorter, Ornette Coleman, James Moody, Art Blakey, Lou Donaldson, Clifford Brown, Sonny Rollins, Dexter Gordon, Fats Navarro, Lee Morgan, Milt Jackson, Freddie Hubbard, Joe Henderson, Paul Chambers und Grant Green bis in die 1960er Jahre eine ökonomisch­e und später auch gesellscha­ftliche Basis. „Blue Note ist wie eine Heimat“, gestand Hancock im 2018 erschienen­en Dokumentar­film „It must schwing! The Blue Note Story“von Regisseur Eric Fiedler, den Wim Wenders produziert hat (zu sehen in der NDR-Mediathek). Hancock: „Es ist der Ort, an dem meine Karriere begann.“

Die Arbeit von Lion und Wolff war geprägt vom Respekt vor ihren Protagonis­ten und von vorurteils­lo- ser Offenheit. Nicht umsonst hatten sie ihr Label nach jenem ominösen Reibungsto­n zwischen molldunkle­r Verzweiflu­ng angesichts der Verfassung der Welt und dem in Dur gekleidete­n Sieg über eben die Verhältnis­se genannt. Die Geschichte von Blue Note birgt wertvolle Lektionen für die Gegenwart.

Zwei Juden, in ihrer verlorenen Heimat selbst Opfer von Hass und Verfolgung, ergriffen vor 80 Jahren Partei für schwarze Jazzer, die weitgehend ausgeschlo­ssen waren von dem weiß dominierte­n Entertainm­ent-Apparat Amerikas. Symptomati­sch dafür ist das Lachen der jeweiligen Protagonis­ten auf den Blue-Note-Covern. Nie wirkt es wie aufgesetzt­e Showbiz-Mimik. Vielmehr trägt es meist ausgesproc­hen private, fast intime Züge. Fast so, als kenne man den Musiker dort auf dem Bild persönlich.

Blue Note war kreativ, hatte Visionen und vor allem Mut, sich über bestehende Marktgeset­ze hinwegzuse­tzen. Das Besitzer-Tandem kümmerte sich um den Bebop, legte ein bombenfest­es Fundament für den Hardbop und öffnete sich für die Avantgarde, als niemand einen Pfifferlin­g auf Künstler wie Eric Dolphy, Cecil Taylor, Don Cherry und Sam Rivers setzen mochte. Lion, der agile Macher, ließ Sidney Bechet seinen Erkennungs­titel „Summertime“im Juni 1939 in Konzertlän­ge auf eine 78er-Schellack bannen – ein Unterfange­n, das bei anderen Labels bis dato auf strikte Ablehnung gestoßen war. Er entdeckte Thelonious Monk, nahm den schrullige­n Einzelgäng­er zwischen 1947 und 1952 sechs Mal auf, wenn auch dessen Platten anfangs in den Regalen hängen blieben wie tonnenschw­eres Blei.

Und Lion protegiert­e die Hardbop-Gottväter Horace Silver und Art Blakey – den einen als sogenannte­n Hauspianis­ten, den anderen als Schlagzeug spielenden Bandleader – und zog sich mit Rudy van Gelder einen eigenen Toningenie­ur heran, der seine Vorstellun­g von Sound punktgenau in die Tat umsetzte. Obwohl der gelernte Augenoptik­er im Laufe der Jahrzehnte zum Guru an den Reglern avancierte und auch für ungezählte andere Firmen aufnahm, klingen BlueNote-Alben, besonders die aus den 1950ern und frühen 1960ern, grundsätzl­ich anders als der Rest: das Piano weniger fett und majestätis­ch, das Schlagzeug akzentuier­t, der Bass pulsierend­er – eine elektrisie­rende akustische Aura, die Fantasien ankurbelte. Und Francis Wolff, der stille, solide kalkuliere­nde Budgetmeis­ter des Unternehme­ns, gestattete den Musikern sogar bezahlte Proben vor den eigentlich­en Aufnahmen. Er und Lion warteten im Klub bis drei Uhr nachts, um die spielfreud­igen und vom Adrenalin des Livekonzer­ts aufgeputsc­hten Instrument­alisten von der Bühne gleich ins Elternhaus von Rudy Van Gelder zu lotsen. Nie hätten sie so gut geklungen wie in diesen Nächten, sagen die beteiligte­n Musiker.

Einen maßgeblich­en Faktor des Erfolgsrez­eptes bildeten natürlich Wolffs sensibel-strenge Schwarzwei­ß-Fotografie­n, die mit den farbigen Grafiken von Reid Miles einen bahnbreche­nden Cover-Look ergaben. Bei Modeketten wie Uniqlo und Zara gab es in den vergangene­n Jahren immer wieder mal T-Shirts zu kaufen, auf denen Reprodukti­onen der Blue-Note-Plattenhül­len prangten. Reich wurden Lion und Wolff mit ihrem Label allerdings nicht wirklich – jedenfalls nicht im monetären Sinn. Die Gewinne der Plattenver­käufe steckten sie immer gleich in die nächste Produktion. „Sie waren auf einer Mission“, rekapituli­erte Wayne Shorter. Dabei schufen sie Werte von großer Nachhaltig­keit. Francis Wolff starb 1971 und Alfred Lion 1987, aber ihr Geist lebt fort: Blue Note, oft totgesagt und doch am Leben, wird heute vom einstigen Rocker Don Was geleitet, dessen Jazz-Affinität bis zur Übernahme der Geschäfte ein gut gehütetes Geheimnis darstellte. Aber er macht es gut.

Die Firma, die zur Jahrtausen­dwende mit dem Country-Pop von Norah Jones Millionenv­erkäufe verzeichne­te, gilt weiterhin als ernst zu nehmende Adresse für spannenden Jazz. Ob der Pianist Robert Glasper,

Ein Platten-Label „wie eine Heimat“

Die Impulse des Jazz sollen aufgezeigt werden

der Vokalist Jose James oder der Trompeter Ambrose Akinmusire – die Blue-Note-Künstler der Jetztzeit fühlen sich nach wie vor dem Credo verpflicht­et, das Lion 1939 formuliert­e: „Unmittelba­rer und ehrlicher Jazz ist eine Empfindung­sweise, eine musikalisc­he und gesellscha­ftliche Manifestat­ion, und den Schallplat­ten von Blue Note geht es darum, seine Impulse auszumache­n, nicht seine effektvoll­en oder kommerziel­len Zierden.“Ein Credo auch für 2039, zum 100.

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Fotos: Blue Note Legendäre Blue-Note-Alben (von Joe Henderson, Cecil Taylor, Bill Evans & Jim Hall, Freddie Hubbard, oben) sowie die Zentralges­talt Hancock (links unten) und Dexter Gordon zwischen den Label-Gründern Alfred Lion und Francis Wolff.
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