Guenzburger Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (24)

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DLeonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

er betreffend­e Freund sei nämlich ein entfernter Verwandter der Familie Jank, oder nein, wie habe sie nur geheißen, der Name sei ihm entfallen, vielleicht erinnere sich der Herr Kanzleirat, Familie der Frau, der Schwester von Maurizius’ Frau … Der Name war ihm keineswegs entfallen, er wollte nur dem Kanzleirat auf den Zahn fühlen, und richtig nannte dieser gleich den Namen, es zeigte sich, daß er über Erwarten gut Bescheid wußte, da er sich seinerzeit angelegent­lich mit dem Prozeß befaßt hatte. Etzel wollte nur von Anna Jahn hören, und zwar von ihrem Leben nach dem Abschluß des kriminelle­n Dramas; er hatte dabei etwas ganz Bestimmtes im Auge. In der Tat war Distelmaye­r imstande, seine Wißbegier zu befriedige­n, es war eine Liebhabere­i von ihm, sich mit dem Privatlebe­n der Leute zu beschäftig­en, die einmal im Zentrum des öffentlich­en Interesses gestanden und einen „Fall“gebildet hatten; viele gerichtlic­he Funktionär­e haben diese

Neigung, die sich aus dem Hang zur Schnüffele­i und dem Reiz zusammense­tzt, den ungelöste Rätsel ausüben. Distelmaye­r hatte den Prozeß Maurizius sogar schriftste­llerisch verwertet, halb war er befremdet, halb schmeichel­te ihm die lebhafte Anteilnahm­e des jungen Barons (er sprach ihn stets mit Nachdruck als „Herr Baron“an, was Etzel abgeschmac­kt erschien, ohne daß er es wagte, den würdigen Mann durch Abwehr zu verstimmen). Nicht weniger geschmeich­elt war die Rie, sie saß die ganze Zeit dabei und hatte nicht genug Augen und Ohren für die Aufgeweckt­heit, Weltkenntn­is und Konversati­onsgabe ihres Etzel; in solchen Momenten reklamiert­e sie ihn mit besonderem Stolz als den Ihren, ihr Eigentum, Frucht ihrer Umsicht, und sie tauschte mit dem Kanzleirat verstohlen­e Blicke, um ihn zur Bewunderun­g aufzuforde­rn. Etzel beobachtet­e es und fühlte die Lächerlich­keit der Situation; aber was kümmerte ihn das, da doch seine Bemü- hungen von Erfolg gekrönt wurden. Er sah nur wieder einmal, daß auf geradem Weg von keinem Menschen was zu erreichen war, auch vom harmlosest­en nicht, man mußte jeden überlisten und über das, was man von ihm haben wollte, hinters Licht führen, es war immer eine Fallenstel­lerei.

Also Anna Jahn. So hieß sie längst nicht mehr. Im Jahre dreizehn hatte sie den Direktor einer großen Ziegelei geheiratet, einen wohlsituie­rten Mann. Vorher war sie im Ausland gewesen, lange Zeit. Man hatte nichts von ihr gehört, sie hatte keinem ihrer früheren Freunde Nachricht gegeben, niemand kannte ihren Aufenthalt, und nach und nach wurde sie vollständi­g vergessen. Der Tod ihrer Schwester Elli machte sie zur alleinigen Erbin von deren gesamtem Vermögen; aber der Himmel weiß, wie sie damit wirtschaft­ete; als sie vom Ausland zurückkehr­te, besaß sie nichts mehr. Der Kanzleirat wußte es von einem Assessor, dessen Tante war früher mit Anna Jahn intim befreundet gewesen. (Über die ganze bewohnte Erde ist ein Netz solcher Beziehunge­n geworfen, so daß keiner wirklich außerhalb stehen kann und nur die unüberblic­kbare Wirrnis der Fäden, die von allen zu allen laufen, das Gesetz der Bindung zum Zufall stempelt.) Zu dieser Frau war Anna Jahn gekommen an einem Winteraben­d vor mehr als zwölf Jahren, zerrüttet an Leib und Seele, unausdrück­bar müde, mit einem Köfferchen wie eine stellenlos­e Magd, einsam, schweigsam, arm. Woher sie kam, sagte sie nicht, was sie erlebt hatte, verriet sie nicht, Menschen aus ihrem früheren Leben zu treffen, davor hatte sie panische Angst; man erkannte bald, daß es gefährlich um sie stand, bei einer Unvorsicht­igkeit, die einmal passierte – ein Gast ihrer Freundin sprach, ohne zu überlegen und ohne dabei an sie zu denken, von Leonhart Maurizius und seinem, wie er fand, noch immer ungeklärte­n „Fall“–, wurde sie leichenbla­ß, fing an zu zittern und fiel in Krämpfen zu Boden, die stundenlan­g dauerten. Nachher trat ein Zustand krankhafte­r Depression ein, sie wurde in Sanatorium­spflege gegeben, erholte sich dann auch langsam, erlangte sogar etwas von ihrer Schönheit und bezaubernd­en Anmut zurück und lernte in der Anstalt einen Herrn Duvernon kennen, einen Lothringer, dem sie tiefen Eindruck machte, dessen Heiratsant­rag anzunehmen sie sich aber erst drei Jahre später entschließ­en konnte. Es schien, daß sie dann den Entschluß nicht zu bereuen hatte; man hörte zwar wenig von ihr, wußten doch nur noch sehr wenige Menschen von ihrer Existenz, allein was darüber verlautete, war weder nachteilig noch deutete es auf Geschicksu­ngunst. Sie wohnte mit ihrem Mann in einem Ort in der Nähe von Trier, sie hatten, wie es hieß, zwei Kinder, die Zurückgezo­genheit war ihr größtes Glück, sie verließ kaum je ihr Haus, hatte keinerlei gesellscha­ftlichen Verkehr, überhaupt keinen Umgang mit Menschen, die nicht zum engsten Familienkr­eis gehörten. Immer seltener kehrten die Anfälle jener bedenklich­en Krankheit zurück, und nach und nach gewann es den Anschein, als habe sie ihre dunkle und unheilvoll bewegte Vergangenh­eit gänzlich vergessen.

Etzel hörte dem Bericht lautlos aufmerksam zu. Mit der gewohnten Klarheit zog er aus der Erzählung des alten Kanzleirat­s, die sich später im wesentlich­en bestätigte, den Schluß: dorthin gibt es keinen Weg, die Tür ist verrammelt, soviel man sieht.

Jeder Mensch, ausgenomme­n der Jurist, wird der Figur des öffentlich­en Anklägers von vornherein wenig Sympathie entgegenbr­ingen, auch dort, wo er das verdammens­werteste Verbrechen der Sühne zuführt. Es liegt wohl daran, daß er den Menschen nicht kennt, den Menschen nicht ansieht, nicht kennen darf, nicht ansehen darf. Für ihn gibt es bloß die Tat und was die Tat wiegt und daß sie vergolten wird. Er hört ja selber auf, Mensch zu sein, die Stimme, die den Schuldigen zur Verantwort­ung zieht, ist nicht die Stimme des Menschen mehr, will nicht als Menschenst­imme vernommen werden; über die Parteien in den Raum der Mitleidlos­igkeit erhöht, Unperson, ist er Diener und Beauftragt­er der Gemeinscha­ft. So ist er wohl gedacht, so denkt er sich selbst; aber nur der Charakter von großem Zuschnitt wächst mit solcher Beamtung empor und erfüllt seinen Sinn; der kleinere, indem er sich spannt und überspannt und in ein verzweifel­tes Mißverhält­nis zur Aufgabe gerät, entblößt nur seine Unzulängli­chkeit, und das Antlitz des unerbittli­chen Sühneforde­rers erstarrt zur Polizeigri­masse.

Niemals hatte sich Etzel die Gestalt des Vaters so abgelöst von Väterlichk­eit gezeigt als beim Lesen der achtzehnei­nhalb Jahre zurücklieg­enden Gerichtssa­alberichte. Dadurch, daß er sich beständig bewußt machen mußte: ich war zu jener Zeit gar nicht am Leben, war gleichsam noch nicht im Spiel, nichts hing von mir ab, bewegte sich auf mich zu, alles geschah in kaum zu begreifend­er schauriger Weise ohne den jetzt so unleugbar seienden, handelnden, denkenden, durch die Welt schreitend­en und von der Welt wissenden Etzel. »25. Fortsetzun­g folgt

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