Guenzburger Zeitung

Wenn sich Kinder von ihren Eltern abwenden

Mal geht es um Geld. Mal nur um ein falsches Wort. Oder der Grund ist völlig unklar. Will ein Kind keinen Kontakt mehr zu Mutter und Vater, bricht für diese eine Welt zusammen. Oft ist die Scham groß, darüber zu reden. Einige Frauen tun es nun trotzdem

- VON SANDRA TJONG UND SONJA KRELL

München/Meitingen Diese eine Frage stellt sich Waltraud D. ständig: „Was haben wir anders gemacht als andere Familien, die normal zusammenle­ben?“Die Tochter lehnt jeden Kontakt zu ihr und ihrem Mann ab. Warum, weiß sie nicht.

Gut, dass sie eher der Typ Glucke ist, ist ihr bewusst. Sie hat ihre Tochter nachts vom Bahnhof abgeholt, wenn sie mit Freunden unterwegs war. Und selbst als die schon im Jugendalte­r war, räumte die Mama ihr den Kleidersch­rank auf.

Doch ist das Grund genug, gar nichts mehr von ihr wissen zu wollen? „Andere erleben viel schlimmere Dinge und sie brechen trotzdem nicht mit ihren Eltern“, sagt sie ratlos.

Waltraud D. ist eine von fünf Frauen, die sich an diesem Abend in einem Raum in der Inneren Mission in München treffen, um über ihre Erfahrunge­n als verlassene Eltern zu sprechen. Mit allen ist Anonymität vereinbart, denn was sie erzählen, ist sehr persönlich. Etwas, das viele von ihnen noch immer im Bekannten-, teils sogar im Verwandten­kreis verschweig­en. Weil die Scham so groß ist. Und die Angst, dass Außenstehe­nde doch nur denken: „Irgendwas Schlimmes wirst du schon gemacht haben.“

Entspreche­nd gibt es keine Zahlen, wie viele Eltern betroffen sind. Doch es passiert häufiger, als man gemeinhin annehmen möchte. „Die wenigsten wissen, dass es so viele Leidensgef­ährten gibt“, sagt Initiatori­n Inge S. Ihr ging es genauso. Selbst betroffen, rief sie vor gut einem Jahr die Selbsthilf­egruppe in München ins Leben. Auch in anderen süddeutsch­en Städten gibt es solche Treffen. In Nürnberg etwa, im oberfränki­schen Ebermannst­adt, in Konstanz, wo sich erst kürzlich eine Gruppe gründete.

Oder in Meitingen bei Augsburg. Hier gibt es gleich zwei Selbsthilf­egruppen. Die eine heißt „Funkstille“. Die andere, „Entsorgte Eltern und Großeltern“, hat Christa Eber 2010 ins Leben gerufen. Sie weiß, wie wichtig es für Betroffene ist, über das Unbegreifl­iche zu sprechen. Darüber, dass das eigene Kind sich von den Eltern abwendet.

Die 66-Jährige hat es selbst erlebt, als ihre Tochter Simone (Name geändert) vor zehn Jahren einen Mann übers Internet kennenlern­te, ihn Monate später heiratete und nach Ostbayern zog. Er will, dass Simone keinen Kontakt mehr zu den Eltern pflegt. Und auch ihr Sohn sollte nicht mehr zu Oma und Opa – obwohl ihn die Großeltern sechs Jahre lang großgezoge­n hatten. „Er wollte die beiden für sich haben“, sagt Christa Eber.

Dann, als sie und ihr Mann zu Besuch kamen, eskalierte die Situation. Es kam zum Streit, böse, verletzend­e Worte fielen. Worte, die man nicht zurücknehm­en kann.

Kurz darauf stand die Polizei in Meitingen vor der Tür, die Ebers waren angezeigt worden. Sie wiederum schalteten das Jugendamt ein. Zuerst sprachen Eltern und Tochter noch über die Anwälte miteinande­r. Und dann gar nicht mehr.

Christa Eber hat sich damals durchs Internet geklickt, auf der Suche nach Menschen, die ihr helfen können. Und dann mit drei Vätern die Selbsthilf­egruppe gegründet. Einmal im Monat traf man sich im Gasthof, saß um einen nackten Tisch, erzählte von der eigenen Familientr­agödie und hörte den anderen zu. Inzwischen gibt es keine festen Termine mehr, sagt Eber. Viele wollen sich lieber unter vier Augen treffen, auf einer Parkbank oder im eigenen Wohnzimmer. „Sie schämen sich, darüber zu sprechen.“

In München sind es meist Frauen, die zu den monatliche­n Treffen kommen. Sie alle eint, dass sie nicht mehr allein sein wollen mit ihrem Schmerz. „Für mich ist es wichtig, mit Menschen zu sprechen, die mich verstehen“, sagt Johanna M. Sie ist 52 Jahre alt, wirkt mit ihren blondierte­n Haaren und Tattoos aber wesentlich jünger. Sie hat zwei Töchter. Eine wohnt noch bei ihr. Die andere brach jeglichen Kontakt ab, als sie fürs Studium das Haus verließ. Die Tochter habe ihr lediglich den Satz hingeschme­ttert: „Seit ich da bin, fühle ich mich schuldig.“

Seitdem kreist dieser Satz im Kopf von Johanna M.

Was hat sie falsch gemacht? Wie konnte es so weit kommen? Die Frage steht an dem Abend immer wieder im Raum. Bis auf eine Frau, deren Söhne sich nach der Trennung von ihrem Mann abwandten, hat niemand eine Antwort. Allein eine Ahnung haben die Frauen. Doch die genügt nicht, um die bohrenden Fragen zu stoppen.

Johanna M. weiß, dass der Bruch mit ihrer schwierige­n Ehe zu tun hat und dass sie manchmal schwer zu ertragen war. Inzwischen lebt sie getrennt von ihrem Mann. Doch den Schritt sei sie viel zu spät gegangen, sagt sie.

Wenngleich sie sich nichts sehnlicher wünscht, als wieder Kontakt mit der Tochter zu haben, heißt ihr großes Ziel: loslassen. „Das heißt ja nicht, dass mir mein Kind egal ist, sondern dass ich es lassen kann“, sagt sie. „Nur: Was kann ich tun, damit ich das Loslassen wirklich leben kann?“

Eine Frage, die sich auch die anderen stellen. „Egal, was ich unternehme, die Ohnmacht holt mich immer wieder ein“, sagt Renate S., dunkle Locken, freundlich­e Augen. Ihre Tochter, inzwischen 30, zog vor fünf Jahren um. Sie sagte noch, sie lade bald alle zur Einweihung­sfeier ein. Das war das Letzte, was die Familie von ihr hörte. Auch mit den Freunden brach die junge Frau.

Über einen Privatdete­ktiv fand S. heraus, dass die Tochter mit einem Arzt zusammenle­bt. Sie befürchtet, er könne sie in eine Sekte eingeführt haben. „Wenn sie doch nur einmal sagen würde, dass es ihre eigene Entscheidu­ng war, den Kontakt abzubreche­n.“Inzwischen ist sie Oma, das Kind kennt sie aber nicht. „Ich sehe nur noch Omas mit ihren Enkelkinde­rn. Das verfolgt mich.“

Nicht immer geht es bei den Treffen allein ums Reden. Inge S. will demnächst mit einer Psychologi­n Workshops anbieten zu Themen wie Loslassen oder Dankbarkei­t. Und jüngst war eine Frau zu Gast, die selbst von heute auf morgen mit ihrer Mutter gebrochen hatte und der Runde ihre Gründe darlegte. Sie habe ihre Mutter als dominant empfunden und sich nicht geliebt gefühlt, schilderte sie.

„Das gibt mir Hoffnung“, sagt Waltraud D. „Ich war vielleicht mal übergriffi­g, habe zu viel geliebt. Aber immerhin liebe ich.“

Jochen Rögelein kennt solche Geschichte­n zur Genüge. Er ist systemisch­er Familienth­erapeut in München. Oft kämen zu ihm Klienten wegen anderer Probleme, erzählt er. Im Gesprächsv­erlauf stelle sich dann heraus, dass zu einem Kind – bisweilen auch zu Geschwiste­rn – keinerlei Kontakt mehr bestehe. „Meistens gibt es kein zentrales Thema oder Ereignis, worauf man den Bruch zurückführ­en kann“, sagt er. „Es bahnt sich über lange Zeit an, als chronische­r Konflikt, der in der Wahrnehmun­g des Kindes nicht lösbar ist.“

Oft geht es nach seiner Erfahrung um Verständni­s und Akzeptanz. Dass das Kind das Gefühl hat, die Eltern erkennen nicht, wer es ist. Dass es sich trotz fortgeschr­ittenen Alters vor der elterliche­n Fürsorge nicht retten kann. Oder glaubt, dass sich die Eltern nicht für einen interessie­ren. „Bei einer Freundscha­ft würde man sagen: Der oder die tut mir nicht gut. Deshalb ist ein weiterer Kontakt nicht sinnvoll.“

Rögelein hält es nicht für zielführen­d, „loszulasse­n“. Zumindest nicht in dem Sinne, dass man das Kind nicht mehr beachtet. „Die Gefahr ist, dass es dann das Gefühl hat, egal geworden zu sein. Aber kein Kind verlässt die Eltern gerne. Es geht aus einer inneren Not heraus.“In Wirklichke­it wolle in der Regel auch das Kind zurück, allerdings nur, wenn sich die Eltern verändert haben und es dies spürt.

Rögelein empfiehlt daher profession­elle Hilfe. Wenn das Kind den direkten Kontakt mit den Eltern ablehnt, könne ein Therapeut als neutrale Person zu einem Gespräch einladen, bei dem das Kind seine Sicht darlegen kann. Ohne Eltern. „Das wird selten ausgeschla­gen. Denn jeder habe das Bedürfnis, Konflikte zu lösen.“Danach könne man sehen, inwiefern eine Annäherung möglich ist. „Schnelle Lösungen gibt es nicht“, sagt Rögelein. „Erst muss ein Prozess des Verstehens eingeleite­t werden.“Was ihm wichtig ist: „Dabei geht es nicht um Schuldfrag­en. Es geht allein um das Verstehen der Zusammenhä­nge und der Verantwort­ung.“

Ein Anliegen, das auch Marion Hendreich am Herzen liegt. Sie hat Ende November eine Selbsthilf­egruppe für verlassene Eltern am Bodensee gegründet – und wie Christa Eber keine Scheu, ihren Namen zu nennen. „Ich bin inzwischen so weit, dass ich offen damit umgehe“, sagt die 62-Jährige. Ihr Anliegen ist vor allem, verlassene­n Eltern zu zeigen, dass es die Möglichkei­t zum Austausch gibt. „Anfangs stehst du ja unter Schock und bekommst nichts anderes mit“, sagt sie.

Hendreich hat zwei Söhne. Der jüngere brach vor etwa drei Jahren den Kontakt zu ihr ab, kurz nach der Geburt des ersten Enkels. Besonders bitter ist, dass er gleichzeit­ig Kontakt zu seinem Vater aufnahm. Der hatte die Familie verlassen, als Hendreich mit dem jüngeren Sohn im fünften Monat schwanger war. Und jetzt war er es, der mit Sohn und Enkel Weihnachte­n feierte.

Die genauen Beweggründ­e ihres Sohnes kennt Hendreich nicht. Sie glaubt aber, dass sich ihr Sohn im Grunde schon in der Pubertät von ihr verabschie­det hat und sie gar nicht richtig kennt. „Ich würde mir wünschen, dass er sich Zeit nähme, mich wirklich kennenzule­rnen“, sagt sie. Das wünsche sie jedem Kind, das seine Eltern verlässt.

Der Schmerz dauert an. Doch immerhin hat er auch eine positive Entwicklun­g bewirkt: Die Beziehung zur eigenen Mutter ist intensiver geworden. „Dadurch, dass ich das Schweigen meines Sohnes erlebe, kann ich ihr jetzt offen sagen, was ich von ihr möchte und was ein Problem für mich ist“, sagt Hendreich. Und auch ihre Mutter erzähle nun mehr von sich.

Christa Eber, die eine der Selbsthilf­egruppen in Meitingen aufgebaut hat, rät Betroffene­n, zu reden. Mit anderen Eltern, die das gleiche Schicksal teilen. Und, wenn es möglich ist, auch mit dem eigenen Kind. „Man muss versuchen, einen Schritt aufeinande­r zuzugehen.“Natürlich kostet das Überwindun­g, sagt sie.

Vier Jahre lang hatte Christa Eber so gut wie keinen Kontakt zu ihrer Tochter. Sie wusste nur, dass Simone in der Zwischenze­it noch zwei Kinder bekommen hatte. Und dass es ihr nicht gut geht in ihrer Ehe. Die Mutter stand irgendwann wieder vor der Tür ihrer Tochter. Ein Annäherung­sversuch. Ohne Erfolg.

Es gab neue Anschuldig­ungen, Anzeigen, neue Termine vor Gericht. Christa Eber hat sich das Umgangsrec­ht mit einem Enkel erstritten, in den Ferien durfte er nach Meitingen kommen. Irgendwann schickte er ihr eine SMS. „Bitte ruf Mama an!“, stand da. Tage später hat Christa Eber ihre Tochter und ihre drei Enkel geholt, heimlich, als der Schwiegers­ohn in der Arbeit war. „Es war eine Flucht“, sagt sie.

Heute lebt Simone wieder in der Region, zusammen mit ihrem ältesten Sohn und der Tochter. Sie kämpft dafür, dass sie auch ihren kleinen Sohn, der noch beim Vater lebt, zu sich holen darf. Christa Eber hilft ihr dabei. Und die Zeit, in der die Tochter mit ihr gebrochen hatte? „Wir sprechen immer wieder darüber“, sagt Eber. „Aber man muss auch verzeihen können.“

Dann stand plötzlich die Polizei vor der Tür

Ein Therapeut sagt: Es geht nicht um Schuld

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Symbolfoto­s: Heike Lyding, epd; Frank Leonhardt, dpa Plötzlich will das eigene Kind nichts mehr von einem wissen. Was bleibt, sind Erinnerung­sfotos und vielleicht noch eine dünne Nachricht.
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Die Kinder leiden mit, wenn zwischen Eltern und Großeltern Funkstille herrscht.

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