Guenzburger Zeitung

„Wir sind eine lebende Skulptur“

Seit über 50 Jahren leben und arbeiten Gilbert Prousch und George Passmore zusammen. Auch im Interview will das Künstlerdu­o nur als eine Person sprechen – über die Beatles, das Lieblingsl­okal, über Sorgen und Hoffnungen

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Mr. Prousch, Mr. Passmore, wann hatten Sie das letzte Mal einen Streit? Gilbert & George: Ah, die ganz entscheide­nde heterosexu­elle Frage! Wir streiten nie, und wenn, dann würden wir Ihnen das nicht sagen. Die ganze Welt ist doch eine einzige große Debatte, ein Kampf, ja ein Krieg – deshalb wollen wir da nicht mitmachen.

Sie führen ein klar abgezirkel­tes Leben. Stimmt es, dass Sie jeden Abend ins selbe Restaurant gehen und dann auch immer das Gleiche bestellen? Gilbert & George: Wenn wir alleine sind wie an den meisten Abenden, gehen wir seit dreißig Jahren immer in dasselbe wunderbare kurdische Restaurant, ja. Es heißt übrigens Manga II. Dort lesen wir auch nie die Karte, sondern nehmen jedes Mal das Gleiche und zwar bis zu dem Abend, an dem wir uns fast übergeben müssen. Dann wählen wir für die nächsten Monate neu aus. Wir haben schon an den Beschneidu­ngsfeierli­chkeiten der beiden Söhne des Besitzers teilgenomm­en, die sind jetzt gute 20 Jahre alt. Was wir in einem Restaurant suchen, ist ganz einfach: köstliches Essen und Kellner, die zum Küssen sind.

Sie bemühen sich in Ihren reich ornamentie­rten Bildern um eine ausgewogen­e Kompositio­n, um passende Farben, um Symmetrie. Wie wichtig ist die Schönheit in Ihrer Kunst?

Gilbert & George: Die Schönheit unterstütz­t die Bedeutung und den Inhalt unserer Kunst, sie bringt quasi unsere Nachricht an den Betrachter.

Gilbert, Sie kommen ursprüngli­ch aus dem schönen Südtirol. Hatten Sie nie Heimweh nach den Dolomiten? Gilbert & George: Keiner von uns hat Heimweh nach seiner fürchterli­chen, ländlichen, rückständi­gen und intolerant­en Heimat. Wir sind der Natur gegenüber zutiefst misstrauis­ch. Und wir glauben, dass eine exzessive Liebe zur Natur zu Totalitari­smus führt.

Dann lassen Sie uns von etwas Angenehmer­em sprechen. Sie beide sind so alt wie die Beatles. Als Sie sich ken- nengelernt haben, 1967 am St. Martin’s College, kam der Song „All You Need Is Love“heraus. Eigentlich passend, oder?

Gilbert & George: Ja, wir sind beide Kriegskind­er und 1942 beziehungs­weise 1943 geboren. Wir wuchsen in einer versehrten Gesellscha­ft auf, in der jeder an eine einfache Wahrheit geglaubt hat: Alles wird besser. Und ja, die Liebe hat dann ihren Weg in unsere moderne Welt gefunden, eine Welt, in der der Krieg von sämtlichen zivilisier­ten Menschen geächtet wird.

Die Liebe spielt auch im Christentu­m eine große Rolle. Sie verstehen sich allerdings als ausgesproc­hene Gegner von Religionen. Trotzdem erinnern Ihre Bilder an Glasfenste­r. In St. Matthäus in Berlin, wo Sie 2017 eine Ausstellun­g hatten, schienen sie wie für diese Kirche gemacht. Wie passt das zu Ihrer Einstellun­g?

Gilbert & George: Wir sagen immer „Verbietet die Religion“und natürlich auch: „Entkrimina­lisiert den Sex.“Wir können einfach nicht an Götter glauben, die sich Menschen ausgedacht haben. Wir Säkularisi­erten haben jetzt die Verantwort­ung! Man muss allerdings sagen, dass wir von den humaneren, intelligen­teren Geistliche­n inzwischen eine gewisse Unterstütz­ung erhalten.

Sie sind ziemlich politisch. Auf einem Ihrer neueren Bilder tragen Sie lauter kleine Bomben am Körper, so wie Sprengstof­fgürtel. Was macht Ihnen derzeit Sorgen: der Terror? Der Brexit?

Gilbert & George: Ja, wir sind politisch, weil wir glauben, dass Kunst und Kultur der Politik voraus sind. Die Menschen wählen eine bestimmte Kultur – außer natürlich in den vielen noch verblieben­en Diktaturen, in denen die Kultur eingeschrä­nkt ist.

Sie erlauben sich in Ihrer Kunst keinerlei Einschränk­ungen, sie geht quasi in Ihren Alltag über. Wird dadurch nicht alles, was Sie tun, zur Skulptur? Gilbert & George: Wir sind zwei Personen, aber ein Künstler. Damit sind wir eine lebende Skulptur, die sich durch unsere und Ihre Welt bewegt. Man könnte auch sagen, wir befinden uns mit unseren visionären Nachrichte­n und Ansichten auf einer Reise zu Ihrem und zu unserem Ende hin.

Auf den Bildern Ihrer neueren Serie „Beard Pictures“– Bart-Bilder – tragen Sie Bärte wie die Propheten oder neuerdings wie die Hipster.

Gilbert & George: Bärte gibt es doch in allen Kulturen, bei den Juden, Muslimen oder den Sikhs, dann wären noch die Hipster, die Landstreic­her, Gott, Jesus, der Teufel, der Weihnachts­mann und Heinrich VIII. Alles wird hier zu einer Verbindung von Ort und Zeit. Als wir jung waren, wäre niemand mit einem Bart in einer Cocktailba­r angestellt worden – heute bekommt man einen solchen Job nicht mehr ohne Bart. Auf den „Bart-Bildern“sind außerdem Zäune und Stacheldra­ht zu sehen, die die Menschen trennen. Die Bärte sind jetzt das verbindend­e Element, durch sie kommen die Menschen auch wieder zusammen.

Mr. Prousch, Sie haben in München studiert und sind nach London gegangen. Hat es Ihnen in Bayern nicht gefallen?

Gilbert & George: Unsere gesamte Studentenz­eit in München, Devon, Oxford und London war vom Glanz unserer Jugend und unserer Kunst bestimmt. Wir waren in einer Gemeinscha­ft der Toleranz, des „anything goes“und der freien Liebe. Was kann sich ein Student mehr wünschen?

Diese freizügige­n Tage liegen 50 Jahre zurück. Wovon träumen Sie heute? Gilbert & George: „Wir träumten von einer Welt voller Schönheit und Glück, voller Reichtum und immer neuen Wonnen, voller Freude und Kinderlach­en, voll süßer Musik und Farben und Formen, von einer Welt köstlicher Katastroph­en und herzzerrei­ßenden Kummers, voller Abscheu und Furcht, einer vollkommen­en Welt also – die ganze Welt eine Kunstgaler­ie.“Das war der Text, den wir uns 1969 ausgedacht haben, und jetzt, 2019, sind wir 50 Jahre weiter und glauben mehr denn je daran. Interview: Christa Sigg

 ?? Foto: Antti Aimo-Koivisto, dpa ?? Die Kunst von Gilbert & George (rechts) kreist um Sexualität und Diskrimini­erung, Religion und Pietismus. Mehrfach war das Künstler-Paar zur Documenta eingeladen und vertrat Großbritan­nien 2005 auf der Biennale in Venedig.
Foto: Antti Aimo-Koivisto, dpa Die Kunst von Gilbert & George (rechts) kreist um Sexualität und Diskrimini­erung, Religion und Pietismus. Mehrfach war das Künstler-Paar zur Documenta eingeladen und vertrat Großbritan­nien 2005 auf der Biennale in Venedig.

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