Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (25)
Dadurch bekam die Zeit etwas Betrügerisches, der Vater und seine Beteiligung an dem Ereignis, das ihm, Etzel, mit jedem Tag mehr zu schaffen machte, ja alle seine Gedanken zu beherrschen anfing, eine furchterweckende Maßlosigkeit der geistigen Form und persönlichen Wirkung, so daß er manchmal in seiner Vorstellung eine Art Graf von Saint-Germain wurde, der etwa schon beim Prozeß gegen Jean Calas dem Schein-Schuldigen, dem Unschuldigen zum Verderben geworden war. Es war das erste Mal, daß ihm die amtliche Tätigkeit des Vaters durch ein ganzes gerichtliches Verfahren hindurch, Verhandlung, Plädoyers und Urteil, in dramatischer Schilderung verlebendigt wurde. (Seit seiner letzten Beförderung, durch die ihm die diktierende Gewalt zufiel, erschien er ja im Gerichtssaal nur noch bei außerordentlichen Anlässen.) Es war für Etzel ein Bild, in welchem er sich nicht zurechtfinden und auch nicht finden konnte; der Name Andergast, da
hätte er sich in verwehten Spuren finden müssen, aber es war so unverwandt wie Stein dem beseelten Auge, es hatte eine finstere Hostilität, der kein Schmerz etwas anzuhaben vermochte, kein Ruf und Aufschrei, kein Beweis, kein Argument, keine Not, kein Antlitz, nichts, nichts, der Gerichtete trat an, der Gerichtete trat ab, die Frage, die an ihn ging, metallen, unerweichlich, hieß nicht: Bist du schuldig oder nicht?, sie lautete: gibst du dich oder nicht? bekennst du dich oder nicht? unterwirfst du dich oder nicht? Dem tat die darüber hingegangene Zeit, achtzehneinhalb Jahre, keinen Abbruch, da war immer noch dieselbe Fanggier, dasselbe angemaßte, unrüttelbare Wissen von der Tat: es schnellte in die gegenwärtige Stunde hinein wie eine Stimme von nebenan, und Etzel, als ob die Stimme ihn selbst träfe und riefe, sprang auf, verriegelte die Tür, lief in der Stube auf und ab und preßte die Hände an die Ohren. Er mußte sich gewaltig zusammennehmen, um dann bei Tisch, bei den „abendlichen Gesprächen“, unbefangen zu bleiben, fügsam Rede zu stehn, artig zuzuhören, die Miene des dankbar Belehrten zu zeigen, statt aufzustehn und vor ihn hinzutreten mit der Dringlichkeit, die wie elektrische Hochspannung in ihm war, zu fragen: Warst du von seiner Schuld überzeugt? hast du wahr und wahrhaftig an seine Tat geglaubt, damals? Seine fragenden Augen waren förmlich angeklammert an das große, strenge, verschlossene Gesicht, an die panzergleiche Stirn. Umsonst, natürlicherweise. Es gibt menschliche Beziehungen, die sofort zerbrächen, wenn im entscheidenden Augenblick das entscheidende Verständnis erfolgte. Sie bestehen nur dadurch, daß es nicht erfolgt. Es bot sich jedoch Gelegenheit, den Anteil seines Vaters am Prozeß Maurizius in einer andern Beleuchtung zu sehen, und er konnte daraus die Meinung erkennen, die sich in einigen Köpfen der oberen Geistesschicht gebildet hatte. Der ihm die Belehrung angedeihen ließ, war Professor FörsterLöring, Soziolog und Nationalökonom, ein Mann, den Etzel achtete und von dessen Verdiensten Camill Raff oft mit Verehrung gesprochen hatte. Übrigens ein ungewöhnlich häßlicher Mann, verwachsen und mit einer gebrochenen, schiefgedrehten Nase. Seine beiden Söhne, Zwillinge, waren Etzels Klassenkameraden, er war oft bei ihnen im Hause gewesen, Herr von Andergast empfahl den Verkehr, jetzt luden sie ihn wieder ein, Ellmers und Schlehlein waren ebenfalls dort. Als der Tee gereicht wurde, gesellte sich der Professor zu den Knaben. Seine Gegenwart brachte immer eine fesselnde Unterhaltung in Gang, von dem und jenem kam man auf die moderne Rechtsprechung, ein Thema, das eben anfing, „brennend“zu werden; die jungen Leute spürten, daß es da ans Lebensmark des Volkes ging. Etzel, nur von der einen, einzigen Sache erfüllt und einer locker hängenden Glocke ähnlich, die schon auf den Anstoß eines Windhauchs mit gedämpftem Erzklang antwortet, warf wie von ungefähr den Namen Maurizius hin, zaghaft, als wolle er sondieren, ob der Professor den Fall kenne und wenn, ob er geneigt sei, sich darüber zu äußern. Der Professor schaute überrascht empor. „Sonderbar, daß Sie diese Causa erwähnen, Andergast“, sagte er, „ich habe neulich erst in einer Schrift daraufhingedeutet.“(Aha, der auch, dachte Etzel.) „Sie ist mir von jeher als symptomatisch erschienen. Ja, eine außergewöhnliche Causa, in mehr als einem Sinn. Haben Sie sich denn damit befaßt oder Spezielles darüber gehört?“Etzel blinzelte, ruckte verlegen auf seinem Stuhl und sagte etwas Nichtiges, während ihn die Kameraden neugierig ansahen. „Nun, zu wundern braucht ich mich über die Zitierung nicht“, fuhr der Professor freundlich fort, „es gibt ja einen recht natürlichen Zusammenhang, da es doch Ihr Herr Vater war, der diese Sache damals führte. Man kann sagen, er war der eigentliche Spiritus rector. Es gehörte eben seine Kraft, sein Mut, seine Superiorität dazu, um die Schwierigkeiten zu besiegen, die sich ihm entgegenstellten. Ich habe ihn sehr bewundert in diesem Kampf. Denn es war wohl ein deutsches Hic Rhodus, hic salta, Deutschland stand sozusagen vor einem sittlichen Entweder-Oder, es war einer von den geschichtlichen Momenten, wo es wählen konnte zwischen Hinauf und Hinab. Auf der einen Seite Frivolität, Genußsucht, Leichtfertigkeit, Unverantwortlichkeit, auf der andern Gewissen, Zucht und Pflicht. Noch einmal bekam das Bessere die Oberhand. Ich entsinne mich noch der abschließenden Rede Ihres Vaters. Es war eine erstaunliche Leistung, man hätte sie an allen Mauern und Litfaßsäulen anschlagen sollen. Ich weiß, es waren starke unterirdische Strömungen zugunsten des Angeklagten, noch heute ist die Bewegung nicht völlig erstickt, wie es ja auch noch Schwärmer gibt, die den ar- men Caspar Hauser für einen Märtyrer halten; aber was will das besagen, wir Alten, die wir diese Zeit miterlebt und unsre Augen offengehalten haben, hegen keinen Zweifel an der Schuld des unglücklichen Menschen. Das freilich war er, weniger ein Verbrecher als ein Schwächling, haltlos und angefault bis in den Grund der Seele.“Etzel hielt den Kopf gesenkt. Ein leises Lächeln, störrisch und überlegen, umzuckte seine Lippen. Das mit dem Caspar Hauser hätte er sich sparen können, dachte er, damit nützt er seiner Sache nicht, da wissen wir besser Bescheid (er hatte sich mit der Geschichte des Findlings beschäftigt und viel darüber gelesen), nur was er über den Vater gesagt hat, das ist fein, das ist famos. Er hob langsam die Lider und schaute mit seinen kurzsichtigen Augen der Reihe nach in die Gesichter. Es waren schöne und häßliche Gesichter, das häßlichste, wie immer, das des Professors, wenn auch das ausdrucksvollste. So lästig Etzel seine Kurzsichtigkeit im Tagesablauf oft empfand, beim Sport, beim Unterricht zum Beispiel, so angenehm war sie ihm bisweilen im Umgang mit Menschen, weil er ihre Züge, sogar ihr allgemeines Verhalten in einen verschönernden Dämmerschimmer getaucht sah.
» 26. Fortsetzung folgt