Die lauten und die leisen Menschen
Nicht alle Jugendlichen haben Spaß daran, ständig unter Leuten zu sein. Manche verbringen ihre Zeit lieber alleine. Warum das so ist und weshalb diese Introversion völlig normal ist, erklärt Psychologin Sarah Kritzler
Augsburg „Wenn Leute mich beschreiben, ist das erste Adjektiv meistens: ruhig“, sagt Tobias*. Er spricht bedacht und eher leise. Der Augsburger ist ein gutes Beispiel für einen introvertierten Menschen. Im Gegensatz zu aktiven, fröhlichen, geselligen und dominanten Extravertierten sind diese eher zurückhaltend, unabhängig, vorsichtig und ernst.
Wobei niemand vollkommen einem der Persönlichkeitsmerkmale zugeordnet werden kann, wie Sarah Kritzler von der Fakultät Psychologie der Universität Bochum weiß: „Es handelt sich dabei um ein Kontinuum, auf dem die meisten eben nicht ganz am Ende liegen, sondern irgendwo dazwischen. Jeder Extravertierte ist mal ernst und distanziert und auch Introvertierte können gesellig und abenteuerlustig sein. Nur sind sie das seltener“, er-
„Extraversion wird oft daran gemessen, ob jemand gerne unter anderen Menschen ist.“Sarah Kritzler, Psychologin
klärt sie. „Es gibt auch sogenannte Ambivertierte, die in der Mitte des Spektrums angesiedelt sind und Eigenschaften von beiden Extremen in sich vereinen.“
Heute wird Extraversion oft daran gemessen, ob jemand gerne unter Menschen ist oder nicht. Dabei gibt es noch mehr Facetten dieser Persönlichkeitseigenschaft. „Aktivität, Erlebnishunger, Frohsinn, Herzlichkeit und Durchsetzungsfähigkeit sind alles Unterbereiche, die zusammen die Eigenschaft Extraversion ausmachen“, sagt Sarah Kritzler. „Nach vielen Theorien geht es bei der Unterscheidung vor allem um das Level der Stimulation. Die Idee dabei ist, dass Introvertierte Umgebungen mit relativ wenig und Extravertierte Umgebungen mit viel Stimulation bevorzugen. Da soziale Interaktionen eine starke Quelle von Stimulation sind, fallen Unterschiede vor allem in diesem Bereich auf.“
Wenn Tobias lange mit vielen Menschen zusammen ist, merkt er, wie müde ihn das macht: „Ich verbringe sehr gerne Zeit mit Freunden, auch mal in einer größeren Gruppe. Aber nach etwa zwei Stunden strengt mich das wirklich an. Viele Leute halten mich für einen Langweiler, weil ich früher von Partys gehe und manchmal lieber zu Hause bleibe. Es ist schwierig, ihnen zu erklären, wie mich die Umgebung überfordert und dass es nicht daran liegt, dass ich keine Lust habe, etwas mit ihnen zu unternehmen.“
Die Art, wie Intro- und Extravertierte Energie gewinnen, ist genau gegensätzlich. „Introvertierte tanken Energie, wenn sie allein sind und verbrauchen diese, wenn sie mit Menschen zusammen sind“, so Sa- rah Kritzler. „Extravertierte hingegen bekommen ihre Energie aus der Interaktion mit anderen.“Um sich von einem Schultag in der ständig großen Gruppe an Mitschülern zu erholen, verbringt Tobias deshalb gerne Zeit allein. „Ich höre dann Musik oder spiele selbst Gitarre. Manchmal mache ich auch Sportübungen und gehe an den Boxsack auf unserem Dachboden.“
Im Vergleich zu anderen Bereichen in der Psychologie ist bei der Persönlichkeit bekannt, dass es mit 40 bis 50 Prozent einen relativ großen Anteil an genetischen Einflüssen gibt. „Schon im Säuglings- und Kleinkindalter können wir bei Kindern ein gewisses Temperament feststellen, zum Beispiel, ob sie besonders lebhaft oder eher zurückhaltend sind oder wie stark sie auf neue Reize reagieren“, sagt Sarah Kritzler. „Manches davon erinnert auch schon an Introversion und Extraversion. Spätestens ab dem Kindergartenalter besitzen Kinder schon eine richtige Persönlichkeit, die in großen Teilen dem entspricht, was wir auch bei Erwachsenen darunter verstehen.“Im Laufe des Lebens kann sich diese zwar immer noch leicht verändern, doch die Tendenzen bleiben meistens stabil.
Im Alltag erleben Introvertierte immer wieder Schwierigkeiten im Zusammenhang mit ihrer Persönlichkeit. Zum einen bleibt in vielen Schulen oder Berufen kaum Zeit zum Alleinsein, zum anderen sehen viele Menschen Extraversion als wünschenswerter und angepasster an. „Ich hatte einen Geschichtslehrer, der mir gesagt hat, wenn ich weiterhin so still bin, werde ich in meinem Leben nichts erreichen“, erinnert sich Tobias.
Doch natürlich hat auch die In- troversion gute Seiten. Ruhigere Menschen werden oft als gute und einfühlsame Zuhörer beschrieben, haben enge Freundschaften und sind sehr kreativ.
Auch viele Künstler werden zu den eher Introvertierten gezählt, auch wenn sie auf den ersten Blick vielleicht nicht so wirken. Emma Watson, Michael Jackson, Joanne K. Rowling und Kurt Cobain sind berühmte Beispiele. „Mir hat es sehr geholfen, zu erfahren, dass ich nicht seltsam, sondern nur introvertiert und damit nicht allein bin“, erklärt Tobias. „Mittlerweile kann ich mit meinen Schwächen besser umgehen und erinnere mich öfter daran, was gut an Introversion ist.“
Psychologin Sarah Kritzler sagt: „Ich persönlich glaube, dass es einfach wichtig ist, sich so anzunehmen, wie man ist.“» Lies mich!
*Name geändert