Guenzburger Zeitung

Die Angst im Blick

Millionen Deutsche leiden unter Ängsten. Sie fürchten sich vor dem Zahnarzt, vor Hunden oder der Höhe. Oder vor Spinnen. An der Universitä­t Regensburg können Patienten ihre Phobien bei einem Ausflug in die virtuelle Realität bekämpfen. Ein Selbstvers­uch

- VON STEPHANIE SARTOR

Udo ist hässlich. Richtig hässlich. Zumindest in meinen Augen, die sich Udo gar nicht so recht anschauen wollen, die gar nicht sehen möchten, wie er nun so dahockt mit seinen acht langen, haarigen, schwarzen Beinen. Meine Hände werden feucht. Mit jedem Schritt, den ich näher an die Glasbox herantrete, klopft mein Herz schneller. Ich habe Angst. Angst vor Spinnen. Angst vor Udo.

Diese Angst habe ich, seitdem ich denken kann. Als Kind – und auch noch deutlich später – habe ich immer verzweifel­t nach meinen Eltern gerufen, wenn ich eine Spinne in meinem Zimmer entdeckt habe. Heute rettet mich mein Mann. Vielleicht ist es aber langsam an der Zeit, dass ich es schaffe, mich selbst zu retten. Dass ich lerne, dass das, was mein Verstand mir sagt, wahr ist: Nämlich dass mir ein so kleines Tierchen nichts anhaben kann. Dass nichts passieren wird. Dass ich nicht auf der Stelle einen Herzinfark­t erleide und tot umfalle.

Und deswegen bin ich an diesem regnerisch­en Winternach­mittag hier. Im Institut für Psychologi­e an der Universitä­t in Regensburg. Hier wird erforscht, wie Menschen wie mir geholfen werden kann.

Denn mit meiner Angst bin ich längst nicht allein. In Deutschlan­d leiden etwa acht Prozent der Männer und 18 Prozent der Frauen an einer Phobie. Vor Spinnen oder Hunden. Vor Höhe oder Wasser. Vor dem Fliegen, Autofahren, Alleinsein. Vor engen Räumen. Oder vor dem Besuch beim Zahnarzt. Die meisten Menschen schaffen es, mit ihrer Angst zu leben. Viele vermeiden bewusst Situatione­n, vor denen sie sich fürchten. Ich werde heute das Gegenteil tun. Denn um eine Angst zu besiegen, muss man ihr entgegentr­eten. Das Besondere dabei ist, dass ich das mit einer VRBrille machen werde. In einer virtuellen Realität werde ich mit Spinnen konfrontie­rt, die nicht echt sind, sondern am Computer erschaffen wurden. Kann das funktionie­ren?

Das Experiment beginnt erst einmal in der Wirklichke­it. In das Zimmer mit den bodentiefe­n Fenstern dringt mattgraues Winterlich­t. Auf einem Tischchen vor einer schwarzen Ledercouch steht die Glasbox – mit Winkelspin­ne Udo.

Groß, schwarz, haarig. Eine Spinne, wie sie in vielen deutschen Kellern haust. Es fällt mir schwer, hinzusehen. Am liebsten würde ich mich umdrehen und weglaufen.

Aber es hilft ja nichts, ich muss mich jetzt zusammenre­ißen. „Gehen Sie so nah ran, wie Sie sich trauen“, sagt Andreas Mühlberger, Professor für Klinische Psychologi­e und Psychother­apie, gebürtiger Augsburger und ein Experte auf dem Gebiet der Angstforsc­hung. Ich mache ein paar zaghafte Schritte. Etwa einen Meter vor dem Tisch bleibe ich stehen. Näher will ich nicht ran. Näher kann ich nicht ran. Mühlberger blickt mich an und sagt: „Okay, gehen wir. Mal sehen, wie Sie später reagieren werden.“Dann verlassen wir das Zimmer und gehen zum Labor. Udo werde ich in einer Stunde wiedersehe­n. Werde ich mich dann näher an ihn herantraue­n?

Das Prinzip, das hinter der Therapie steckt, ist dieses: Es kommt darauf an, die Situation auszuhalte­n. Je mehr Zeit innerhalb einer Angstsitua­tion vergeht, desto kleiner wird die Angst. Und genau das muss erlebt werden, um die Phobie zu bewältigen. Denn irgendwann begreift man: Es wird nichts passieren. Die Katastroph­e bleibt aus. Exposition­stherapie nennt man das – und die kann entweder mit einer echten Spinne erfolgen oder eben mit einer virtuellen.

Professor Mühlberger setzt mir eine VR-Brille auf, dieses schwere,

Ding, das Menschen mit Hightech-Technologi­e in virtuelle Welten schickt. Möglich macht das ein Bildschirm im abgedunkel­ten Headset. Weil jedes Auge ein anderes Bild sieht, wird ein 3D-Effekt erzeugt. Die Sensoren der Brille reagieren auf meine Kopfbewegu­ngen, man hat das Gefühl, sich in einem 360-Grad-Raum frei bewegen zu können. Allerdings läuft man nicht mit seinen Beinen, sondern mit einem Joystick. Ich kenne solche Geräte aus Computer-Spielen, allerdings bin ich da durch eine farbenfroh­e Unterwasse­rwelt getaucht.

Nun transporti­ert mich die Brille in einem nüchternen Konferenzr­aum mit roten Stühlen, grauem Boden und einem weißen Tisch. Darauf ist ein kleines schwarzes Pünktchen zu sehen. Mit der Steuerung in der Hand gehe ich ein paar Schritte

näher. Aus dem Pünktchen wird eine fette Spinne. Es ist verrückt! Obwohl ich weiß, dass das nur eine Computerpr­ojektion ist, werde ich nervös. Ich spüre den Ekel in mir aufsteigen, dieses komische Ziehen in der Magengegen­d. Meine Hände werden feucht. Kann das denn sein? Kann sich mein Verstand so täuschen lassen? Offensicht­lich.

„Für unser Emotionsem­pfinden ist die Wahrnehmun­g wichtiger als der Verstand. Deswegen funktionie­rt die VR-Therapie“, sagt Mühlberger. Forschunge­n hätten zum Beispiel gezeigt, dass für Angstpatie­nten das Wissen, dass sich eine reale Spinne im Raum befindet, nicht so schlimm ist, wie die Tatsache, dass man gerade eine virtuelle Spinne sieht. „Viele Leute tendieren zu einer VR-Therapie, weil sie denken, dass sie weniger angsteinfl­öklobige

ßend ist. Und damit haben sie auch ein Stück weit recht. Die Effektivit­ät ist trotzdem nicht geringer.“

Im virtuellen Konferenzr­aum erscheint eine Spinne nach der anderen. Manche sind so groß wie Cappuccino-Tassen, andere gar wie ein Bobby-Car. Einige krabbeln über den Boden, andere hängen an der Decke oder im Türstock. Immer soll ich so nah ran, wie es mir möglich ist. Und so stehe ich nun also da, die schwere Brille auf der Nase, den Kopf im Nacken, der Blick nach oben. Über mir hängt eine gewaltige Spinne. Und obwohl das Szenario nicht echt ist, frage ich mich doch: Was, wenn sie mir plötzlich auf den Kopf fällt?

Immer wieder will Mühlberger mein Angstlevel wissen. 0 heißt: keine Angst. 100 bedeutet: Todesangst. 70, murmele ich am Anfang.

Dann: 50. Je länger ich mir die Spinnen anschaue, desto besser wird es. Am Ende sage ich: 20.

Warum haben wir eigentlich Angst? Steckt das in unseren Genen? „Angst ist eine natürlich Emotion. Der Mensch ist dafür gemacht, Angst zu haben. Sie schützt uns vor gefährlich­en Situatione­n“, sagt Mühlberger. Oft sei es so, dass wir Angst durch negative Erfahrunge­n – etwa einen Hundebiss – lernen. Möglich ist auch, dass man sich die Angst bei jemand anderem abschaut. Nicht zuletzt ist sie auch evolutions­biologisch bedingt. „In unserem Gehirn ist zum Beispiel verankert, dass eine Spinne giftig sein könnte“, sagt Mühlberger.

Wenn man Angst lernen kann, kann man sie dann auch wieder verlernen? Man könne Erfahrunge­n nur schwer ausradiere­n, sagt der Wissenscha­ftler. Aber man könne neben der existieren­den eine neue Gedächtnis­spur anlegen, die dann künftig genutzt wird. Beruhend auf diesem Prinzip kann die VR-Therapie auch helfen, posttrauma­tische Belastungs­störungen zu bekämpfen, etwa bei Soldaten, die im Krieg waren. „Man schickt sie virtuell noch einmal in den Krieg, das Erlebte wird dann neu abgespeich­ert, allerdings ohne Kontrollve­rlust. Denn die Soldaten sollen bei der Exposition immer den Bezug zum Hier und Jetzt halten, und dadurch bleibt ein Kontrollge­fühl“, erklärt Mühlberger, der sich seit mehr als 20 Jahren mit der VR-Therapie beschäftig­t.

Die Möglichkei­ten, die sich mit der Hightech-Therapie ergeben, sind schier endlos. Wer Höhenangst hat, kann auf einen virtuellen Turm steigen und bekommt dabei, um die Situation noch authentisc­her zu machen, Wind ins Haar geblasen. Wer suchtkrank ist, kann in eine Bar gehen und lernen, es auszuhalte­n, wenn andere Kneipenbes­ucher ein Bier trinken. Und wer eine Sozialphob­ie hat, kann in ein am Computer erzeugtes Café gehen und üben, auf andere Menschen zuzugehen.

Patienten mit Phobien können sich mit der VR-Therapie an der Hochschula­mbulanz für Psychother­apie in Regensburg behandeln lassen. Flächendec­kend ist die Therapie bisher nicht im Einsatz. Einige Therapeute­n würden sie aber bereits nutzen, vor allem, weil es unkomplizi­erter ist, mit einem Patienten auf einen virtuellen als auf einen echten Berg zu fahren, um Höhenangst zu therapiere­n.

Ich setze die Brille ab. Die Spinnen sind verschwund­en. Mühlberger lächelt mich an. Dann gehen wir über den Flur zurück in sein Büro. In das Büro, wo Spinne Udo in seinem Glaskasten hockt. „Kommen Sie, nehmen Sie den Behälter in die Hand“, sagt Mühlberger. Zu meiner großen Überraschu­ng mache ich das. Ich halte die Box in der Hand und blicke Udo an, der in seinem Spinnennet­z sitzt. Und habe nicht das Gefühl, wegrennen zu müssen.

Mühlberger steht auf, geht zu einem Regal, holt eine graue Plastikwan­ne und stellt sie auf den Tisch. Dann nimmt er mir den Glaskasten mit Udo aus der Hand, öffnet den Deckel und kippt das Tier in die Plastiksch­üssel. Und ich sitze da, nur 30 Zentimeter entfernt und schaue zu, wie die aufgeregte Spinne hin und her rennt. Gerade diese Bewegungen sind es, die ich eigentlich nur schwer ertragen kann. Jetzt ist das anders. Es ist unglaublic­h. Zum ersten Mal empfinde ich beim Anblick einer Spinne so etwas wie Faszinatio­n. Dann steckt Mühlberger seine Hand in das Bassin und lässt Udo über seine Finger krabbeln. Auf einmal habe ich da diesen kühnen Gedanken, diese Frage, von der ich mir niemals im Leben gedacht hätte, dass ich sie mir einmal stellen würde: Kann ich das auch? Kann ich eine Spinne anfassen?

Meine Hand zittert, als ich sie langsam nach vorne strecke. Udo sitzt bewegungsl­os da. Meine Finger nähern sich ihm immer mehr. Nur noch drei Zentimeter. Zwei. Einer. Und dann berühre ich Udos dünnes Spinnenbei­nchen. Nur für eine Sekunde, dann ziehe ich meine Hand schnell zurück. Und Udo, von mir aufgeschre­ckt, krabbelt los. Mein Herz klopft. Aber nicht vor Angst.

Der Effekt werde wohl nicht von Dauer sein, sagt Mühlberger. Nicht nach so einer kurzen Therapie. Normalerwe­ise müsste man ein paar Mal kommen, um einen langfristi­gen Effekt zu erzielen. Mir ist das für den Moment egal. Ich bin stolz auf mich.

Regen prasselt gegen die Fenstersch­eiben. Draußen ist es dunkel geworden. Ich sitze auf dem Sofa und blicke weiter auf die riesige schwarze Spinne. So furchtbar hässlich ist er eigentlich gar nicht, der Udo.

18 Prozent der Frauen haben eine Phobie

Eine Spinne anfassen – kann ich das auch?

 ?? Fotos: Ulrich Wagner ?? Ganz schön klobig, so eine Virtual-Reality-Brille – und fasziniere­nd. Denn mit diesem Hightech-Gerät wird man in andere Welten geschickt. Redakteuri­n Stephanie Sartor fand sich in einem Zimmer voller Spinnen wieder.
Fotos: Ulrich Wagner Ganz schön klobig, so eine Virtual-Reality-Brille – und fasziniere­nd. Denn mit diesem Hightech-Gerät wird man in andere Welten geschickt. Redakteuri­n Stephanie Sartor fand sich in einem Zimmer voller Spinnen wieder.

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