Die Angst im Blick
Millionen Deutsche leiden unter Ängsten. Sie fürchten sich vor dem Zahnarzt, vor Hunden oder der Höhe. Oder vor Spinnen. An der Universität Regensburg können Patienten ihre Phobien bei einem Ausflug in die virtuelle Realität bekämpfen. Ein Selbstversuch
Udo ist hässlich. Richtig hässlich. Zumindest in meinen Augen, die sich Udo gar nicht so recht anschauen wollen, die gar nicht sehen möchten, wie er nun so dahockt mit seinen acht langen, haarigen, schwarzen Beinen. Meine Hände werden feucht. Mit jedem Schritt, den ich näher an die Glasbox herantrete, klopft mein Herz schneller. Ich habe Angst. Angst vor Spinnen. Angst vor Udo.
Diese Angst habe ich, seitdem ich denken kann. Als Kind – und auch noch deutlich später – habe ich immer verzweifelt nach meinen Eltern gerufen, wenn ich eine Spinne in meinem Zimmer entdeckt habe. Heute rettet mich mein Mann. Vielleicht ist es aber langsam an der Zeit, dass ich es schaffe, mich selbst zu retten. Dass ich lerne, dass das, was mein Verstand mir sagt, wahr ist: Nämlich dass mir ein so kleines Tierchen nichts anhaben kann. Dass nichts passieren wird. Dass ich nicht auf der Stelle einen Herzinfarkt erleide und tot umfalle.
Und deswegen bin ich an diesem regnerischen Winternachmittag hier. Im Institut für Psychologie an der Universität in Regensburg. Hier wird erforscht, wie Menschen wie mir geholfen werden kann.
Denn mit meiner Angst bin ich längst nicht allein. In Deutschland leiden etwa acht Prozent der Männer und 18 Prozent der Frauen an einer Phobie. Vor Spinnen oder Hunden. Vor Höhe oder Wasser. Vor dem Fliegen, Autofahren, Alleinsein. Vor engen Räumen. Oder vor dem Besuch beim Zahnarzt. Die meisten Menschen schaffen es, mit ihrer Angst zu leben. Viele vermeiden bewusst Situationen, vor denen sie sich fürchten. Ich werde heute das Gegenteil tun. Denn um eine Angst zu besiegen, muss man ihr entgegentreten. Das Besondere dabei ist, dass ich das mit einer VRBrille machen werde. In einer virtuellen Realität werde ich mit Spinnen konfrontiert, die nicht echt sind, sondern am Computer erschaffen wurden. Kann das funktionieren?
Das Experiment beginnt erst einmal in der Wirklichkeit. In das Zimmer mit den bodentiefen Fenstern dringt mattgraues Winterlicht. Auf einem Tischchen vor einer schwarzen Ledercouch steht die Glasbox – mit Winkelspinne Udo.
Groß, schwarz, haarig. Eine Spinne, wie sie in vielen deutschen Kellern haust. Es fällt mir schwer, hinzusehen. Am liebsten würde ich mich umdrehen und weglaufen.
Aber es hilft ja nichts, ich muss mich jetzt zusammenreißen. „Gehen Sie so nah ran, wie Sie sich trauen“, sagt Andreas Mühlberger, Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie, gebürtiger Augsburger und ein Experte auf dem Gebiet der Angstforschung. Ich mache ein paar zaghafte Schritte. Etwa einen Meter vor dem Tisch bleibe ich stehen. Näher will ich nicht ran. Näher kann ich nicht ran. Mühlberger blickt mich an und sagt: „Okay, gehen wir. Mal sehen, wie Sie später reagieren werden.“Dann verlassen wir das Zimmer und gehen zum Labor. Udo werde ich in einer Stunde wiedersehen. Werde ich mich dann näher an ihn herantrauen?
Das Prinzip, das hinter der Therapie steckt, ist dieses: Es kommt darauf an, die Situation auszuhalten. Je mehr Zeit innerhalb einer Angstsituation vergeht, desto kleiner wird die Angst. Und genau das muss erlebt werden, um die Phobie zu bewältigen. Denn irgendwann begreift man: Es wird nichts passieren. Die Katastrophe bleibt aus. Expositionstherapie nennt man das – und die kann entweder mit einer echten Spinne erfolgen oder eben mit einer virtuellen.
Professor Mühlberger setzt mir eine VR-Brille auf, dieses schwere,
Ding, das Menschen mit Hightech-Technologie in virtuelle Welten schickt. Möglich macht das ein Bildschirm im abgedunkelten Headset. Weil jedes Auge ein anderes Bild sieht, wird ein 3D-Effekt erzeugt. Die Sensoren der Brille reagieren auf meine Kopfbewegungen, man hat das Gefühl, sich in einem 360-Grad-Raum frei bewegen zu können. Allerdings läuft man nicht mit seinen Beinen, sondern mit einem Joystick. Ich kenne solche Geräte aus Computer-Spielen, allerdings bin ich da durch eine farbenfrohe Unterwasserwelt getaucht.
Nun transportiert mich die Brille in einem nüchternen Konferenzraum mit roten Stühlen, grauem Boden und einem weißen Tisch. Darauf ist ein kleines schwarzes Pünktchen zu sehen. Mit der Steuerung in der Hand gehe ich ein paar Schritte
näher. Aus dem Pünktchen wird eine fette Spinne. Es ist verrückt! Obwohl ich weiß, dass das nur eine Computerprojektion ist, werde ich nervös. Ich spüre den Ekel in mir aufsteigen, dieses komische Ziehen in der Magengegend. Meine Hände werden feucht. Kann das denn sein? Kann sich mein Verstand so täuschen lassen? Offensichtlich.
„Für unser Emotionsempfinden ist die Wahrnehmung wichtiger als der Verstand. Deswegen funktioniert die VR-Therapie“, sagt Mühlberger. Forschungen hätten zum Beispiel gezeigt, dass für Angstpatienten das Wissen, dass sich eine reale Spinne im Raum befindet, nicht so schlimm ist, wie die Tatsache, dass man gerade eine virtuelle Spinne sieht. „Viele Leute tendieren zu einer VR-Therapie, weil sie denken, dass sie weniger angsteinflöklobige
ßend ist. Und damit haben sie auch ein Stück weit recht. Die Effektivität ist trotzdem nicht geringer.“
Im virtuellen Konferenzraum erscheint eine Spinne nach der anderen. Manche sind so groß wie Cappuccino-Tassen, andere gar wie ein Bobby-Car. Einige krabbeln über den Boden, andere hängen an der Decke oder im Türstock. Immer soll ich so nah ran, wie es mir möglich ist. Und so stehe ich nun also da, die schwere Brille auf der Nase, den Kopf im Nacken, der Blick nach oben. Über mir hängt eine gewaltige Spinne. Und obwohl das Szenario nicht echt ist, frage ich mich doch: Was, wenn sie mir plötzlich auf den Kopf fällt?
Immer wieder will Mühlberger mein Angstlevel wissen. 0 heißt: keine Angst. 100 bedeutet: Todesangst. 70, murmele ich am Anfang.
Dann: 50. Je länger ich mir die Spinnen anschaue, desto besser wird es. Am Ende sage ich: 20.
Warum haben wir eigentlich Angst? Steckt das in unseren Genen? „Angst ist eine natürlich Emotion. Der Mensch ist dafür gemacht, Angst zu haben. Sie schützt uns vor gefährlichen Situationen“, sagt Mühlberger. Oft sei es so, dass wir Angst durch negative Erfahrungen – etwa einen Hundebiss – lernen. Möglich ist auch, dass man sich die Angst bei jemand anderem abschaut. Nicht zuletzt ist sie auch evolutionsbiologisch bedingt. „In unserem Gehirn ist zum Beispiel verankert, dass eine Spinne giftig sein könnte“, sagt Mühlberger.
Wenn man Angst lernen kann, kann man sie dann auch wieder verlernen? Man könne Erfahrungen nur schwer ausradieren, sagt der Wissenschaftler. Aber man könne neben der existierenden eine neue Gedächtnisspur anlegen, die dann künftig genutzt wird. Beruhend auf diesem Prinzip kann die VR-Therapie auch helfen, posttraumatische Belastungsstörungen zu bekämpfen, etwa bei Soldaten, die im Krieg waren. „Man schickt sie virtuell noch einmal in den Krieg, das Erlebte wird dann neu abgespeichert, allerdings ohne Kontrollverlust. Denn die Soldaten sollen bei der Exposition immer den Bezug zum Hier und Jetzt halten, und dadurch bleibt ein Kontrollgefühl“, erklärt Mühlberger, der sich seit mehr als 20 Jahren mit der VR-Therapie beschäftigt.
Die Möglichkeiten, die sich mit der Hightech-Therapie ergeben, sind schier endlos. Wer Höhenangst hat, kann auf einen virtuellen Turm steigen und bekommt dabei, um die Situation noch authentischer zu machen, Wind ins Haar geblasen. Wer suchtkrank ist, kann in eine Bar gehen und lernen, es auszuhalten, wenn andere Kneipenbesucher ein Bier trinken. Und wer eine Sozialphobie hat, kann in ein am Computer erzeugtes Café gehen und üben, auf andere Menschen zuzugehen.
Patienten mit Phobien können sich mit der VR-Therapie an der Hochschulambulanz für Psychotherapie in Regensburg behandeln lassen. Flächendeckend ist die Therapie bisher nicht im Einsatz. Einige Therapeuten würden sie aber bereits nutzen, vor allem, weil es unkomplizierter ist, mit einem Patienten auf einen virtuellen als auf einen echten Berg zu fahren, um Höhenangst zu therapieren.
Ich setze die Brille ab. Die Spinnen sind verschwunden. Mühlberger lächelt mich an. Dann gehen wir über den Flur zurück in sein Büro. In das Büro, wo Spinne Udo in seinem Glaskasten hockt. „Kommen Sie, nehmen Sie den Behälter in die Hand“, sagt Mühlberger. Zu meiner großen Überraschung mache ich das. Ich halte die Box in der Hand und blicke Udo an, der in seinem Spinnennetz sitzt. Und habe nicht das Gefühl, wegrennen zu müssen.
Mühlberger steht auf, geht zu einem Regal, holt eine graue Plastikwanne und stellt sie auf den Tisch. Dann nimmt er mir den Glaskasten mit Udo aus der Hand, öffnet den Deckel und kippt das Tier in die Plastikschüssel. Und ich sitze da, nur 30 Zentimeter entfernt und schaue zu, wie die aufgeregte Spinne hin und her rennt. Gerade diese Bewegungen sind es, die ich eigentlich nur schwer ertragen kann. Jetzt ist das anders. Es ist unglaublich. Zum ersten Mal empfinde ich beim Anblick einer Spinne so etwas wie Faszination. Dann steckt Mühlberger seine Hand in das Bassin und lässt Udo über seine Finger krabbeln. Auf einmal habe ich da diesen kühnen Gedanken, diese Frage, von der ich mir niemals im Leben gedacht hätte, dass ich sie mir einmal stellen würde: Kann ich das auch? Kann ich eine Spinne anfassen?
Meine Hand zittert, als ich sie langsam nach vorne strecke. Udo sitzt bewegungslos da. Meine Finger nähern sich ihm immer mehr. Nur noch drei Zentimeter. Zwei. Einer. Und dann berühre ich Udos dünnes Spinnenbeinchen. Nur für eine Sekunde, dann ziehe ich meine Hand schnell zurück. Und Udo, von mir aufgeschreckt, krabbelt los. Mein Herz klopft. Aber nicht vor Angst.
Der Effekt werde wohl nicht von Dauer sein, sagt Mühlberger. Nicht nach so einer kurzen Therapie. Normalerweise müsste man ein paar Mal kommen, um einen langfristigen Effekt zu erzielen. Mir ist das für den Moment egal. Ich bin stolz auf mich.
Regen prasselt gegen die Fensterscheiben. Draußen ist es dunkel geworden. Ich sitze auf dem Sofa und blicke weiter auf die riesige schwarze Spinne. So furchtbar hässlich ist er eigentlich gar nicht, der Udo.
18 Prozent der Frauen haben eine Phobie
Eine Spinne anfassen – kann ich das auch?