Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (26)
DLeonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat. © Projekt Gutenberg
ie Frage, die an den alten Maurizius zu stellen war, lautete: Wo ist Waremme? Sie trafen sich vor einem kleinen Kaffeehaus beim Guiolettplatz, es regnete seit Stunden, sie gingen die paar Straßen bis zur Christuskirche und suchten Zuflucht unter dem Portal. Es war das zweite Mal, daß sie sich auf diese Art in der Stadt sahen, verabredetermaßen natürlich; aber beim erstenmal war Etzel nicht dazu gekommen, die Frage zu stellen, der alte Mann hatte ihn durch eine Erzählung in Atem gehalten, und nachher hatte Etzel alles andere vergessen, war von dem Alten weggeschlichen und so geistesabwesend vorwärts gestolpert, daß er in ein falsches Haus am Kettenhofweg gegangen und, als er es bemerkt, beim Umkehren die Steinstufen am Tor hinuntergefallen war, ohne sich jedoch Schaden zu tun. Die Erzählung bestand in dem Bericht, wie Peter Paul Maurizius mit fünf seiner Bekannten, lauter alten Männern, die Stunden vor der Verkündigung
des Todesurteils verbracht hatte. Gott mag wissen, was ihn veranlaßt hatte, die Episode aus der Vergangenheit heraufzubeschwören. Ganz von selbst fing er davon an, als wär’s ein Erlebnis aus der vorigen Woche, von dem zu reden ihm bis jetzt die Zeit gefehlt. In sich gekehrt, die Pfeife im Mundwinkel, mit krächzender Stimme und unter häufigem Spucken brachte er die Geschichte vor.
Es war so: Der Staatsanwalt hatte sein Plädoyer geschlossen, das zweite, das noch zermalmender als das erste war und auf das der Verteidiger, trockener, armseliger Mann und kläglich anzuhören nach der Schwertrede des „blutigen Andergast“, nur kurz erwiderte. Der Vorsitzende erteilte die Rechtsbelehrung, die Geschworenen zogen sich zurück, der Gerichtssaal – Publikum Kopf an Kopf, aus allen Ständen und Klassen gemischt – sott in Fieberspannung. Peter Paul, von zwei Freunden, die aus seinem Wohnort schon mit ihm gekommen waren, rechts und links geführt, verließ die gärende Menschenmasse, aus der das Gift der Sensation schwitzte. Es war sicher, daß die Geschworenenberatung und -abstimmung stundenlang dauern würde. Die beiden Begleiter hatten darauf bestanden, daß Peter Paul in seinen Gasthof ginge und die Entscheidung dort abwartete. Der eine war ein Rentamtmann aus Lorch, der andere ein Müller aus St. Goarshausen. Sie beauftragten einen jungen Unteroffizier, den Neffen des Rentamtmanns, ihnen ohne Säumen, so geschwind wie möglich, den Urteilsspruch zu überbringen; der Gasthof lag kaum fünf Minuten entfernt. Es galt, den alten Maurizius zu schonen, ihm über die Zeit hinwegzuhelfen. Der Unteroffizier versprach, auf dem Posten zu bleiben, und wenn es soweit war, es an Eile nicht fehlen zu lassen. Peter Paul tat alles, was man wollte. Er widersprach nicht, noch äußerte er einen Wunsch. Vor dem Tor des Gerichtsgebäudes – es war schon Abend, ein kalter Augustabend – traten noch zwei Alte zu den dreien, Bekannte aus ihrer Gegend, und schlossen sich ihnen in stummem Mitgefühl an, ein Optiker, ebenfalls aus St. Goarshausen, und ein Versicherungsinspektor aus Langenschwalbach. Alle vier folgten Peter Paul in sein Gasthauszimmer, das ziemlich geräumig war und in dessen Mitte ein großer, runder Tisch stand. Um diesen Tisch setzten sie sich, fünf Männer: Peter Paul Maurizius war weitaus der Jüngste unter ihnen, der Rentamtmann, als der Nächstälteste, war sechzig, der Optiker, der Älteste, war achtundsiebzig. Sie bestellten Bier, vor den Platz eines jeden wurde ein Glas hingestellt, keiner rührte es an. So saßen die fünf in ununterbrochenem Schweigen fünf volle Stunden und warteten auf das Urteil. Als die vierte Stunde vorüber war, erhob sich der Müller schwerfällig und öffnete weit die Tür zum Gang. Alle verstanden ihn. Es geschah, damit der Bote schneller das Zimmer finden sollte und damit man ihn gleich sollte hören können, wenn er von unten kam. Die letzte Stunde. „So eine Stunde hat es noch nicht gegeben, seit die Welt steht, junger Herr.“Es war ein geringer Gasthof, die Stiege war aus Holz, hatte keinen Teppichbelag und befand sich gleich neben dem Eingang. Endlich, zwölf Minuten vor zwölf, läutete es unten, nach einer Weile knirschte das Tor, wieder nach einer Weile rumpelten schwere Stiefel auf der Stiege, und alle fünf Männer, die Langsamkeit der Schritte richtig einschätzend, wußten Bescheid. Es war, als käme der Sensenmann selber die Treppe herauf. Dann erschien der junge Soldat auf der Schwelle, weiß wie ein Laken, die fünf Alten standen auf, ein einziger, tiefer Atemzug von allen fünf gleichzeitig: Verurteilung zum Tode.
„Wo ist Waremme?“Maurizius überlegte. Er zog die schäbige Mütze fester in die Stirn. Es schien, als könne er sich nicht entschließen zu antworten. Man habe nichts von ihm gehört, knurrte er. Man könne sich ja denken, daß ihm der Boden unter den Füßen zu heiß geworden sei. Habe es eilig gehabt zu verduften. Es habe auch kein Mensch mehr von ihm gesprochen, man habe nichts mehr von ihm erfahren, bis zum heutigen Tag. Sei außer Landes gegangen. Ebenso wie die Anna Jahn, die sei auch außer Landes gegangen. Wohin? Na ja, um das Jahr acht habe es mal geheißen, daß man sie alle beide, ihn und sie, in Deauville gesehen habe. Deauville, das sei doch der Name, wie? Seebad, wie? In Frankreich, wie? Der Alte nahm seine Pfeife aus dem Mund, hielt sie im steifen Arm vor sich und fixierte Etzel mit widerwärtig schielendem Blick. Der Knabe machte große Augen. Was war das? Das war neu. Ein Gerücht? Nur ein Gerücht? Ihn und sie gesehen? Wer hat sie gesehen? Wer hat es bezeugt? Maurizius zuckte die Achseln. „Er soll damals einen Bart getragen haben“, fügte er sarkastisch hinzu; „jawohl, der eine läßt sich rasieren, der andere sorgt für Haarwuchs, das ist der Lauf der Welt, junger Herr Andergast.“Er kicherte heiser und spuckte auf die Steinfliesen. Ein älterer Herr mit einem Schlapphut stellte sich vor das ungleiche Paar, bastelte an seinem Regenschirm und schimpfte leise über das Wetter. Als er wieder gegangen war, fragte Etzel, was für eine Sorte Mensch Waremme gewesen sei. „Gewesen?“fuhr Maurizius auf, „gewesen? Das hoff ich zu unserm Herrgott im Himmel, daß nichts an ihm gewesen ist, kein Atemzug an ihm gewesen ist. Gewesen! Da säßen wir saftig im Dreck. Gewesen!“Zornig wetterte es in seinen blutunterlaufenen Augen. „Ich meine, weil es so lang her ist“, entschuldigte sich Etzel höflich. „Schwer, von dem was zu sagen“, maulte der Alte und rieb die Kinnlade hin und her wie ein Pferd, dessen Lefzen von der Trense gescheuert werden. „Weiß der Teufel, wie man ihn beschreiben soll. Nicht zu glauben, wenn man denkt, was er damals war und was er heut ist…“Er hielt inne. Er hatte offenbar mehr gesagt, als er sagen wollte, und suchte, bestürzt blinzelnd, in seiner Tasche nach Zündhölzern. Etzel blickte neugierig empor. Da war er einer Entdeckung auf der Spur.
»27. Fortsetzung folgt