Guenzburger Zeitung

Beim Fahren entscheide­t die Vernunft

Reflexa-Chef Hans Peter Albrecht fährt seit 60 Jahren unfallfrei. Fahrtests für Senioren lehnt er ab. Jetzt hat das auch Bundesverk­ehrsminist­er Andreas Scheuer ausgeschlo­ssen. Was sagen Experten zu dem Thema?

- VON PHILIPP WEHRMANN

Rettenbach Dreimal im Jahr hätte Hans Peter Albrecht die Erde umrunden können – so viel fuhr er in seinem Berufslebe­n mit seinem Auto: 120 000 Kilometer und mehr. Der Wagen des Unternehme­rs, ein großer schwarzer SUV, steht auf dem Hof seiner Firma Reflexa in Rettenbach. „Seit ich 1961 mein Unternehme­n gründete, war ich gezwungen viel Auto zu fahren“, sagt er. Besuche bei Kunden, Geschäftsp­artnern, dazu regelmäßig­e Visiten in den anderen Fabriken seines Unternehme­ns in Österreich, Sachsen, Baden-Württember­g. „Der Kunde kommt selten zu Ihnen.“

Den großen Wagen hat er, weil er dort bequem einsteigen kann, sagt er. Dreimal um die Welt fährt der 80-Jährige zwar nicht mehr, aber mit einer jährlichen Laufleistu­ng von über 40 000 Kilometern immer noch deutlich mehr als der Durchschni­ttsfahrer. Trotz dieser hohen Kilometerz­ahl fährt er seit 60 Jahren unfallfrei und wurde dafür mehrmals von der Kreisverke­hrswacht ausgezeich­net. „Es musste extra eine Urkunde angefertig­t werden, weil die Ehrungen normalerwe­ise nach 50 Jahren aufhören.“

Dass ältere Menschen häufig als schlechter­e Autofahrer dargestell­t werden, stört Albrecht. Regelmäßig­e Tests, die Menschen ab einem gewissen Alter absolviere­n müssen, um weiter fahren zu dürfen, lehnt er ab. „Das ist diskrimini­erend. Jeder muss in eigener Verantwort­ung einschätze­n, ob er fahren kann oder nicht.“Es mache auch einen Unterschie­d, ob man in die nächste Stadt, etwa Burgau, oder eine lange Strecke ins Ausland fährt. Zuletzt war eine Diskussion über Fahren im Alter entbrannt, nachdem Prinz Philipp, der 97-jährige Gemahl der Queen, in einen Unfall verwickelt war.

Verkehrsex­perten zerbrechen sich seit Längerem den Kopf darüber: Wie vertragen sich das Älterwerde­n mit der Fahrtüchti­gkeit? In vielen europäisch­en Ländern gibt es bereits verpflicht­ende Tests. Bundesverk­ehrsminist­er Andreas Scheuer hat sie nun in Deutschlan­d ausgeschlo­ssen. „Einen Verkehrste­st für Senioren wird es mit mir nicht geben“, sagte er den Zeitungen der Funke-Mediengrup­pe. „Aus der Unfallstat­istik ergeben sich keine Auffälligk­eiten. Unfälle können einem 21 Jahre alten Fahrer genauso passieren wie einer 81 Jahre alten Fahrerin.“Ist das wirklich so?

Ein Blick auf die Unfalldate­n im Landkreis Günzburg legt es jedenfalls nahe: Nach vorläufige­n Zahlen des Polizeiprä­sidiums Schwaben Süd/West ereigneten sich im Landkreis im vergangene­n Jahr etwa 3800 Verkehrsun­fälle. An 292 Unfällen davon waren Menschen im Alter von 65 Jahren und älter beteiligt, wie Polizeispr­echer Jürgen Krautwald sagt. Das entspricht knapp acht Prozent. Der Anteil der Senioren an der Bevölkerun­g ist wesentlich höher: Allein die Menschen über 75 Jahre machten im Landkreis Günzburg zuletzt 12,4 Prozent aus, wie aus Zahlen des Statistisc­hen Landesamts hervorgeht. Auffällig sei, wie der Polizeispr­echer sagt, dass nicht angepasste Geschwindi­gkeit – eigentlich eine der Hauptunfal­lursachen – bei Menschen über 65 Jahre kaum eine Rolle spiele.

Auch der Unternehme­r Albrecht sagt, er habe seine Reisegesch­windigkeit im Vergleich zu jungen Jahren reduziert. Nicht aber, weil er älter geworden sei, sondern weil er mehr Zeit habe als früher. „Ich bin früher oft schnell gefahren, aber immer nur, wenn es vernünftig war.“Das habe er aber nicht „aus Spaß an der Freud’ gemacht“. Im Arbeitsall­tag sei er gezwungen, zügig am Ziel anzukommen. Am liebsten fahre er ohnehin nachts, wenn wenig Verkehr sei. Wenn er zu seinen entfernt gelegenen Fabriken unterwegs war, fuhr er spät abends los, ruhte sich in einer Werkswohnu­ng vor Ort aus und begann morgens den Arbeitstag. „Wäre ich morgens losgefahre­n, wäre der halbe Tag ja schon vorbei gewesen.“

Albrecht befürchtet, dass solche Kontrollen, die nur wegen des Alters von Fahrern durchgefüh­rt würden, willkürlic­h wären. „Am einen Tag fühlt man sich nicht gut. Und am nächsten Tag geht es einem wieder gut. Was, wenn die Kontrolle auf den schlechten Tag fällt?“Nur wegen des Alters könne man keine Aussage über die Fahrtüchti­gkeit treffen. „Es gibt wahrschein­lich genug über 90-Jährige, die noch sehr gut Autofahren können, und es gibt Jüngere, bei denen das möglicherw­eise nicht mehr so gut geht. Das hat auch viel mit Übung zu tun.“

So ähnlich beschreibt das auch Ralf Wetzel, der den Bereich Verkehrswe­sen im Landratsam­t Günzburg leitet. Die Fahrtüchti­gkeit habe nicht direkt etwas mit dem Alter zu tun, sondern sei individuel­l unterschie­dlich – trotzdem gebe es mögliche Begleiters­cheinungen des Alterns, die notwendige Fähigkeite­n einschränk­en: Hören, Sehen, die Reaktionsf­ähigkeit. Nicht nur Erkrankung­en könnten Probleme im Verkehr verursache­n, sondern auch Medikament­e.

Fahrer von Bussen und Lastwagen müssen ihre Fahrtüchti­gkeit für diese Fahrzeuge regelmäßig nachweisen. Dagegen gilt in Deutschlan­d der Autoführer­schein, also die frühere Klasse 3 und die heutige Klasse B, ein Leben lang. Wenn die Fahrtüchti­gkeit im Alter möglicherw­eise nachlässt, erlischt der Führersche­in nicht – außer er wird freiwillig abgegeben oder zwangsweis­e entzogen. Die Polizei teilt der Führersche­instelle, unabhängig vom Alter, mit, wenn sie Auffälligk­eiten bei Fahrern beobachtet. Falls notwendig, kann der Führersche­in nach einer ärztlichen Untersuchu­ng entzogen werden, erklärt Wetzel. Er beschreibt ein Beispielsz­enario: Ein Fahrer missachtet ein Stoppschil­d und verursacht dadurch einen Unfall. Wenn er auf die Frage eines Polizisten, ob er das Schild nicht gesehen habe, „Welches Stoppschil­d?“fragt, könnte der Polizist eine solche Auffälligk­eit melden – ganz unabhängig vom Alter des Fahrers, wie auch der Polizeispr­echer betont.

2018 hat das Landratsam­t Günzburg 196 Maßnahmen nach solchen gemeldeten Beobachtun­gen eingeleite­t. 19 Mal wurde nach altersoder krankheits­bedingten Auffälligk­eiten per Bescheid der Führer- schein entzogen. Das sei allerdings nur das letzte Mittel, sagt Wetzel – in manchen Fällen könne man die Fahrerlaub­nis einschränk­en, etwa in einem festgelegt­en Umkreis um den Wohnort des Betroffene­n, damit er weiter einkaufen, seine Familie oder einen Arzt besuchen kann. Oder aber der Fahrer verzichtet freiwillig auf die Fahrerlaub­nis, weil er im Gespräch mit den Mitarbeite­rn des Landratsam­tes zu der Erkenntnis gelangt, dass es die bessere Wahl sein könnte.

Um den Verzicht aufs Autofahren zu erleichter­n, gebe es in den Landkreise­n Günzburg und Mindelheim seit 2017 eine Aktion des Verkehrsve­rbunds Mittelschw­aben: Fahrer ab 65 Jahren können ihren Führersche­in abgeben und erhalten dafür ein Jahrestick­et für die öffentlich­en Verkehrsmi­ttel im Verbund. Das haben vergangene­s Jahr 38 Fahrer im Landkreis in Anspruch genommen. Allerdings war in allen Fällen zuvor das Landratamt über Auffälligk­eiten informiert worden. Obwohl Senioren relativ selten an Unfällen beteiligt sind, sagt Wetzel: „Fahren im Alter ist ein Thema für uns.“Der demografis­che Wandel werde Auswirkung­en auf den Verkehr haben.

Davor warnt auch Sigfried Brockmann, der für den Gesamtverb­and der deutschen Versicheru­ngswirtsch­aft (GDV) Unfälle erforscht. „Betrachtet man die Statistike­n mit absoluten Unfallzahl­en, kommt man zu dem Schluss: Es gibt kein Problem.“Das habe aber auch damit zu tun, dass bei der Generation über 75 Jahren Autofahren generell weniger verbreitet sei als bei den Jüngeren. „Insbesonde­re Frauen dieser Altersgrup­pe haben häufig überhaupt keinen Führersche­in. Das wird sich ändern, deshalb werden auch mehr Senioren insgesamt am Verkehr teilnehmen.“Außerdem wachse die Altersgrup­pe generell. Und blicke man auf das Unfallrisi­ko des einzelnen Fahrers, so sei die Wahrschein­lichkeit, dass ein Fahrer über 75 Jahre an einem tödlichen Unfall beteiligt ist, höher als bei den 18- bis 21-Jährigen. Zudem verursache die Altersgrup­pe der Senioren drei Viertel aller Unfälle mit Personensc­haden, an denen sie beteiligt ist, selbst. „Wir suchen seit Jahren panisch nach Lösungen für dieses Problem, weil es auch in absoluten Zahlen eines werden wird“, sagt der Unfallfors­cher.

Verpflicht­ende Alterstest­s aber sind auch seiner Ansicht nach keine Lösung: „Es gibt keinen Test, der nach wissenscha­ftlichen Standards und mit einem vertretbar­en Aufwand eine verlässlic­he Aussage darüber trifft, ob ein Mensch noch fahrtüchti­g ist oder nicht.“

Eine Alternativ­e seien sogenannte Rückmeldef­ahrten, bei denen Fahrer von einem Experten begleitet werden. Nach der Fahrt bekommen sie eine Einschätzu­ng des Begleiters: Dass sie verkehrssi­cher fahren, bestimmte Dinge ändern oder beachten sollten, oder aber im Extremfall auf das Fahren verzichten sollten – verbindlic­h ist diese Einschätzu­ng aber nicht. Derzeit gebe es solche Fahrten auf freiwillig­er Basis.

Diese Lösung setze auf Vernunft – und an die appelliert auch der Unternehme­r Albrecht. „Viele Gefahren kann man als geübter Fahrer vermeiden, etwa wenn man einem anderen Fahrer ausweicht, der Fehler macht. Es gehört aber auch immer Glück dazu. Man ist darauf angewiesen, dass andere ebenfalls vernünftig fahren.“Ob jemand vernünftig fahre oder nicht, hänge nicht von seinem Alter ab.

Senioren sind in der Region selten an Unfällen beteiligt

38 Fahrer haben 2018 ihren Schein abgegeben

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Fotos: Ph. Wehrmann Hans Peter Albrecht ist für langjährig­es unfallfrei­es Fahren von der Kreisverke­hrswacht ausgezeich­net worden. Jeder Fahrer muss eigenveran­twortlich entscheide­n und vernünftig fahren, sagt er.
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Eine besondere Urkunde für Hans Peter Albrecht, die ihm zufolge eigens hergestell­t werden musste.

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