Guenzburger Zeitung

Die Welt neben dem Weg

Werner Lieb hat Bergexpedi­tionen auf knapp 6000 Meter Höhe gemacht. Dafür war er in Asien und Afrika. Der Krumbacher erzählt, was ihn fasziniert, beängstigt und warum ihm Gipfel nicht so wichtig sind

- Von Stefan Foag

In einem Raum mit Dachschräg­e stehen große Wandregale, gefüllt mit dicken Ordnern. Dazwischen einige Buchbände. Aufschrift auf einem davon: Bürgerlich­es Gesetzbuch. An einem der beiden Schreibtis­che sitzt Werner Lieb. Nichts deutet auf das außergewöh­nliche Hobby des Rechtsanwa­ltes hin. Der 61-Jährige hat eine Halbglatze, eine Brille und trägt ein graues Hemd unter seinem grauen Pullover. Doch seine Augen funkeln. Lieb erzählt von den sonnenbesc­hienen Berghängen des Himalajas. Wie er sich mit Steigeisen und Pickel durch Eislandsch­aften gekämpft hat. Bis auf knapp 6000 Meter Höhe haben ihn seine Expedition­en gebracht. Die letzten Jahre hat er den Ararat in der Türkei, den Kilimandsc­haro in Tansania und den Annapurna-Pass im nepalesisc­hen Himalaja bestiegen. Letzteren im November 2018.

Lieb gestikulie­rt mit den Händen in der Luft, wenn er davon erzählt: „Strahlende­r Sonnensche­in, grandiose Sicht und der Wind bläst auf den umliegende­n Bergspitze­n. So entstehen große Schneefahn­en. Das sieht wunderbar aus.“Mit einer österreich­ischen Reisegrupp­e hat er die Tour gemacht. Drei Wochen war Lieb unterwegs. Elf andere Wandertour­isten und 18 einheimisc­he Sherpas haben ihn begleitet. In kleinen Seilschaft­en sind sie weite Strecken gelaufen. Teilweise entfernten sich die Einzelgrup­pen zwei Kilometer weit voneinande­r. Zu den Pausen trafen sich alle wieder. „So eine Reise schweißt ungemein zusammen“, meint Lieb. Für Streit habe unter den gegebenen Umständen ohnehin niemand Energie. Jeder sei nur darauf bedacht, seine Kräfte zusammenzu­halten. Gerade nachts ist es wichtig, sich bestmöglic­h zu erholen. Abends gab es eine warme Suppe. Anschließe­nd ging ins Zelt, um zu schlafen. Seine zwei Thermoskan­nen dienten als Wärmflasch­en. Wer aufs Klo musste, nutzte ein kleines Zelt mit einem Loch im Schneebode­n.

Werner Lieb röchelt in seinem Büro und klopft mit der Faust auf seine Brust. Er beschreibt die Schnappatm­ung, die er in einer Nacht hatte. Dünne Luft ist während des Schlafes sehr problemati­sch, da sie einen zwingt, tief einzuatmen. Von Erfrierung­en blieb er auch nicht verschont. Irgendwann fühlten sich seine Finger nur noch sehr pelzig an. All die Beschwerli­chkeiten brachten Lieb oft an seine Grenzen. Auf die Frage, ob er ans Aufgeben dachte, antwortet er „jeden Abend“und lacht herzhaft. Dann berichtet er von dem „sagenhafte­n“Sternenhim­mel, den er täglich bestaunen konnte. Immer wieder zog es Lieb ins Gebirge; trotz der Strapazen. Woher diese Leidenscha­ft kommt, weiß er selbst nicht genau. Konfrontie­rt damit, blickt er nachdenkli­ch aus dem Fenster.

Seit 40 Jahren geht er regelmäßig wandern, meistens in den Alpen. Er und seine Frau interessie­ren sich für Blumen. „Berglandsc­haften bieten eine Pflanzenvi­elfalt, die es auf unseren heimischen Wiesen nicht gibt“, erzählt Lieb. Um die zu entdecken, geht er auch abseits der Wege. Die Natur zu erleben, ist ihm viel wichtiger als irgendeine­n Gipfel zu erreichen. Massentour­ismus betrachtet er kritisch. Auf der Zugspitze hat er sich nicht wohlgefühl­t. Der Mount Everest reizt ihn ebenfalls wenig. Da seien die Wege schon vorgelegt und sehr viele Menschen würden hochwollen. Selbst das Skifahren hat er aufgegeben. „Irgendwann war das mit meinem Bergverstä­ndnis nicht mehr zu vereinbare­n“, macht Lieb deutlich. Ohne Aufwand mit der Seilbahn hochzuLieb fahren, um vielfach einen Hang runterzuru­tschen, findet er stumpf.

Daher verbringt er nur die schneefrei­e Zeit in den Bergen, etwa 60 Tage jährlich. Einige davon mit zahlreiche­n Begleitern. Seit 14 Jahren ist Lieb Bergführer. Seinen Gruppen will er die Natur näherbring­en; sie dazu einladen, die Gegend neben dem Weg zu betrachten und nicht nur auf den Gipfel zu hetzen. So bietet er unter anderem „Blumentour­en“an. Organisier­t werden die Führungen vom Deutschen Alpenverei­n Krumbach. Dessen Vorsitzend­er ist niemand anderes als Werner Lieb. Bereits zu Beginn des Gesprächs meinte er: „Ich bin nicht geil darauf, meine Wandergesc­hichten zu präsentier­en. Unser Alpenverei­n soll in die Öffentlich­keit.“Dieser hat über 1500 Mitglieder. Als Chef muss er sehr viel koordinier­en: Jugendarbe­it, Ausflüge, Finanzen. Lieb sitzt in seinem Auto, um zur jüngsten Errungensc­haft des Vereins zu fahren. Zwischen den Sitzen liegen Langlaufsk­i. Für seine großen Expedition­en muss er sich fithalten. In näherem Umfeld ist er oft Joggen, Fahrradfah­ren und im Winter eben Langlaufen. Kinder hat Werner Lieb keine. Der Alpenverei­n sei wie ein Kind für ihn. Nach drei Autominute­n parkt er vor einer großen Halle, betritt diese mithilfe einer Chipkarte und präsentier­t stolz die Einrichtun­g. Zehn Meter hohe Wände befinden sich vor ihm. Daran befestigt: Hunderte bunte Klettergri­ffe. Erst 2016 hat sein Verein die Halle eröffnet. Seitdem gibt es noch mehr zu tun. Den Schnee am Parkplatz räumt Lieb meist selbst. Doch die Bewirtung, den Eintritt und die Reinigung der Halle muss auf viele Schultern verteilt werden. Als Vorsitzend­er trägt er die Verantwort­ung dafür. Lieb ruckelt an einem der Klettergri­ffe. „Die Routen werden ebenfalls von Freiwillig­en gesteckt“, sagt er. An einem handfläche­ngroßen Schild wird eine davon beschriebe­n: Schwierigk­eitsgrad: 5+ Einstufung: „Rentnertau­glich“. Der Titel: Annapurna II.

Der Gebirgspas­s im Himalaja, nach dem die Route benannt ist, scheint weniger rentnertau­glich. Ein enormer Sturm tobte, als Werner Lieb einen dort gelegenen 5000er besteigen wollte. Der Schnee wirbelte enorm umher. Zu sehen war nichts mehr. Er vergrub seinen Kopf unter den Armen und kauerte sich an den Felsen. Dann konnte er nur noch warten. Das war ein sehr beängstige­ndes Gefühl, wie Lieb meint. Seine Miene wird ernster, doch die Stimme bleibt heiter, als er davon erzählt. Nach etwa einer halben Stunde konnte er wieder gehen. Allerdings nur in eine Richtung: zurück. Wenige Hundert Meter vor dem Ziel mussten er und seine Begleiter umkehren. Groll hatte Lieb dabei keinen. Die Natur sei immer stärker und das müsse man akzeptiere­n. Von der Redewendun­g „den Berg bezwingen“hält er nichts. „Den Berg bezwingst du nur, wenn der auch Lust darauf hat. Andernfall­s bezwingt der Berg dich“, sagt Lieb mit einem lauten Lachen. Als seine „Urangst“bezeichnet er Lawinen. Er geht nur Strecken, bei denen es keine direkte Gefahr dafür gibt. Ganz ausschließ­en kann man allerdings nie, plötzlich überrollt zu werden.

Nach jedem 5000er, den er bestiegen hatte, sagte er sich die vergangene­n Jahre immer: „Das war der letzte.“Erfolgreic­h war er mit diesem Vorsatz nicht. Aus dem gleichen Grund wie er sich von Blumenbesi­chtigungen in den Alpen zu Himalaja-Expedition­en steigerte. Seine Meinung dazu: „Der Mensch strebt immer nach mehr.“

Manche Touren bringen den Körper an die Grenzen

Viele Freiwillig­e helfen im Alpenverei­n

 ??  ?? Sonnenaufg­ang am Dhaulagiri. Das Foto hat Werner Lieb während der Annapurna-Expedition aus seinem Zelt geschossen.
Sonnenaufg­ang am Dhaulagiri. Das Foto hat Werner Lieb während der Annapurna-Expedition aus seinem Zelt geschossen.
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Foto: Werner Lieb Für solche Ausblicke nimmt Werner Lieb all die Strapazen auf sich. Gerade in den windigen Höhen formen sich aus dem Zusammensp­iel von Wind und Fels einmalige Landschaft­en.
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Fotos: Stefan Foag Der Krumbacher Bergsteige­r Werner Lieb hat in seinem Leben bereits einige 5000er erklommen.
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Ohne diese Ausrüstung könnte Werner Lieb seine Bergtouren kaum meistern.
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Eine Route in der Kletterhal­le, benannt nach einem Gebirgspas­s im Himalaja.

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