Die Welt neben dem Weg
Werner Lieb hat Bergexpeditionen auf knapp 6000 Meter Höhe gemacht. Dafür war er in Asien und Afrika. Der Krumbacher erzählt, was ihn fasziniert, beängstigt und warum ihm Gipfel nicht so wichtig sind
In einem Raum mit Dachschräge stehen große Wandregale, gefüllt mit dicken Ordnern. Dazwischen einige Buchbände. Aufschrift auf einem davon: Bürgerliches Gesetzbuch. An einem der beiden Schreibtische sitzt Werner Lieb. Nichts deutet auf das außergewöhnliche Hobby des Rechtsanwaltes hin. Der 61-Jährige hat eine Halbglatze, eine Brille und trägt ein graues Hemd unter seinem grauen Pullover. Doch seine Augen funkeln. Lieb erzählt von den sonnenbeschienen Berghängen des Himalajas. Wie er sich mit Steigeisen und Pickel durch Eislandschaften gekämpft hat. Bis auf knapp 6000 Meter Höhe haben ihn seine Expeditionen gebracht. Die letzten Jahre hat er den Ararat in der Türkei, den Kilimandscharo in Tansania und den Annapurna-Pass im nepalesischen Himalaja bestiegen. Letzteren im November 2018.
Lieb gestikuliert mit den Händen in der Luft, wenn er davon erzählt: „Strahlender Sonnenschein, grandiose Sicht und der Wind bläst auf den umliegenden Bergspitzen. So entstehen große Schneefahnen. Das sieht wunderbar aus.“Mit einer österreichischen Reisegruppe hat er die Tour gemacht. Drei Wochen war Lieb unterwegs. Elf andere Wandertouristen und 18 einheimische Sherpas haben ihn begleitet. In kleinen Seilschaften sind sie weite Strecken gelaufen. Teilweise entfernten sich die Einzelgruppen zwei Kilometer weit voneinander. Zu den Pausen trafen sich alle wieder. „So eine Reise schweißt ungemein zusammen“, meint Lieb. Für Streit habe unter den gegebenen Umständen ohnehin niemand Energie. Jeder sei nur darauf bedacht, seine Kräfte zusammenzuhalten. Gerade nachts ist es wichtig, sich bestmöglich zu erholen. Abends gab es eine warme Suppe. Anschließend ging ins Zelt, um zu schlafen. Seine zwei Thermoskannen dienten als Wärmflaschen. Wer aufs Klo musste, nutzte ein kleines Zelt mit einem Loch im Schneeboden.
Werner Lieb röchelt in seinem Büro und klopft mit der Faust auf seine Brust. Er beschreibt die Schnappatmung, die er in einer Nacht hatte. Dünne Luft ist während des Schlafes sehr problematisch, da sie einen zwingt, tief einzuatmen. Von Erfrierungen blieb er auch nicht verschont. Irgendwann fühlten sich seine Finger nur noch sehr pelzig an. All die Beschwerlichkeiten brachten Lieb oft an seine Grenzen. Auf die Frage, ob er ans Aufgeben dachte, antwortet er „jeden Abend“und lacht herzhaft. Dann berichtet er von dem „sagenhaften“Sternenhimmel, den er täglich bestaunen konnte. Immer wieder zog es Lieb ins Gebirge; trotz der Strapazen. Woher diese Leidenschaft kommt, weiß er selbst nicht genau. Konfrontiert damit, blickt er nachdenklich aus dem Fenster.
Seit 40 Jahren geht er regelmäßig wandern, meistens in den Alpen. Er und seine Frau interessieren sich für Blumen. „Berglandschaften bieten eine Pflanzenvielfalt, die es auf unseren heimischen Wiesen nicht gibt“, erzählt Lieb. Um die zu entdecken, geht er auch abseits der Wege. Die Natur zu erleben, ist ihm viel wichtiger als irgendeinen Gipfel zu erreichen. Massentourismus betrachtet er kritisch. Auf der Zugspitze hat er sich nicht wohlgefühlt. Der Mount Everest reizt ihn ebenfalls wenig. Da seien die Wege schon vorgelegt und sehr viele Menschen würden hochwollen. Selbst das Skifahren hat er aufgegeben. „Irgendwann war das mit meinem Bergverständnis nicht mehr zu vereinbaren“, macht Lieb deutlich. Ohne Aufwand mit der Seilbahn hochzuLieb fahren, um vielfach einen Hang runterzurutschen, findet er stumpf.
Daher verbringt er nur die schneefreie Zeit in den Bergen, etwa 60 Tage jährlich. Einige davon mit zahlreichen Begleitern. Seit 14 Jahren ist Lieb Bergführer. Seinen Gruppen will er die Natur näherbringen; sie dazu einladen, die Gegend neben dem Weg zu betrachten und nicht nur auf den Gipfel zu hetzen. So bietet er unter anderem „Blumentouren“an. Organisiert werden die Führungen vom Deutschen Alpenverein Krumbach. Dessen Vorsitzender ist niemand anderes als Werner Lieb. Bereits zu Beginn des Gesprächs meinte er: „Ich bin nicht geil darauf, meine Wandergeschichten zu präsentieren. Unser Alpenverein soll in die Öffentlichkeit.“Dieser hat über 1500 Mitglieder. Als Chef muss er sehr viel koordinieren: Jugendarbeit, Ausflüge, Finanzen. Lieb sitzt in seinem Auto, um zur jüngsten Errungenschaft des Vereins zu fahren. Zwischen den Sitzen liegen Langlaufski. Für seine großen Expeditionen muss er sich fithalten. In näherem Umfeld ist er oft Joggen, Fahrradfahren und im Winter eben Langlaufen. Kinder hat Werner Lieb keine. Der Alpenverein sei wie ein Kind für ihn. Nach drei Autominuten parkt er vor einer großen Halle, betritt diese mithilfe einer Chipkarte und präsentiert stolz die Einrichtung. Zehn Meter hohe Wände befinden sich vor ihm. Daran befestigt: Hunderte bunte Klettergriffe. Erst 2016 hat sein Verein die Halle eröffnet. Seitdem gibt es noch mehr zu tun. Den Schnee am Parkplatz räumt Lieb meist selbst. Doch die Bewirtung, den Eintritt und die Reinigung der Halle muss auf viele Schultern verteilt werden. Als Vorsitzender trägt er die Verantwortung dafür. Lieb ruckelt an einem der Klettergriffe. „Die Routen werden ebenfalls von Freiwilligen gesteckt“, sagt er. An einem handflächengroßen Schild wird eine davon beschrieben: Schwierigkeitsgrad: 5+ Einstufung: „Rentnertauglich“. Der Titel: Annapurna II.
Der Gebirgspass im Himalaja, nach dem die Route benannt ist, scheint weniger rentnertauglich. Ein enormer Sturm tobte, als Werner Lieb einen dort gelegenen 5000er besteigen wollte. Der Schnee wirbelte enorm umher. Zu sehen war nichts mehr. Er vergrub seinen Kopf unter den Armen und kauerte sich an den Felsen. Dann konnte er nur noch warten. Das war ein sehr beängstigendes Gefühl, wie Lieb meint. Seine Miene wird ernster, doch die Stimme bleibt heiter, als er davon erzählt. Nach etwa einer halben Stunde konnte er wieder gehen. Allerdings nur in eine Richtung: zurück. Wenige Hundert Meter vor dem Ziel mussten er und seine Begleiter umkehren. Groll hatte Lieb dabei keinen. Die Natur sei immer stärker und das müsse man akzeptieren. Von der Redewendung „den Berg bezwingen“hält er nichts. „Den Berg bezwingst du nur, wenn der auch Lust darauf hat. Andernfalls bezwingt der Berg dich“, sagt Lieb mit einem lauten Lachen. Als seine „Urangst“bezeichnet er Lawinen. Er geht nur Strecken, bei denen es keine direkte Gefahr dafür gibt. Ganz ausschließen kann man allerdings nie, plötzlich überrollt zu werden.
Nach jedem 5000er, den er bestiegen hatte, sagte er sich die vergangenen Jahre immer: „Das war der letzte.“Erfolgreich war er mit diesem Vorsatz nicht. Aus dem gleichen Grund wie er sich von Blumenbesichtigungen in den Alpen zu Himalaja-Expeditionen steigerte. Seine Meinung dazu: „Der Mensch strebt immer nach mehr.“
Manche Touren bringen den Körper an die Grenzen
Viele Freiwillige helfen im Alpenverein