Gast im Leben der anderen
Ein Schriftsteller in Berlin, der zuhört und erzählt, was unser Dasein ausmacht
zieht den Erzähler durch seine in Polen wurzelnde Lebensgeschichte in Bann. Es ist eine Geschichte von Irrtum, kaputter Ehe und dem Tod des einzigen Sohnes, der als Aussteiger in Bolivien ertrunken ist. Wie Nawrat Dariusz’ lange Reise zum Todesort seines Sohnes schildert, wie er Kalifornien, Mexiko, Bolivien beschreibt – das gehört zu den stärksten Kapiteln dieses ansonsten in Berlin verorteten Romans.
Ruhig und distanziert erforscht Matthias Nawrat dort in kurzen und längeren Kapiteln, was unsere Existenz ausmacht, wie jedes Individuum Aspekte des allgemeinen Menschseins verkörpert. Nawrat probiert Geschichten an wie Kleider. „Ich konnte an nichts anderes denken als an andere Menschen, an andere Leben, die ich leben wollte.“Wir treiben mit dem Autor durch das Berlin von heute, das in diesem Roman mehr ist als nur Kulisse. Es ist der Nährboden, auf dem die Geschichten gedeihen. Nawrat erzählt vom Unbehagen auf den Straßen nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz, er führt uns in Kirchen, Kneipen, Friedhöfe und ein Forschungslabor, wo ein ehemaliger Studienkollege, den der Erzähler zufällig wiedertrifft, arbeitet. Wir lesen eine Mischung aus Tagebuch und Fiktion.
Jeder Andere ist eine Erzählung, die etwas mit unserem eigenen Leben zu tun hat. Lebensläufe, Sinnkrisen, Prägungen durch andere: Darum kreisen die Geschichten, die der „traurige Gast“hört – Literatur, getränkt mit dem Wissen um Vergänglichkeit. Überall. „In der Wohnung roch es nach etwas, das ich kannte. Ich meinte, es sei der Geruch alter Bücher, deren Papier in Zeiten hergestellt und umgeblättert worden war, die schon lange vergangen waren.“Einmal lässt der Erzähler Dariusz sagen: „Mich packte das Grauen, wie viele Menschen es waren, die ich niemals kennenlernen würde und auch nicht kennenlernen wollte.“Das Leben ist niemals auserzählt. Michael Schreiner Matthias Nawrat: Der traurige Gast Rowohlt,
304 Seiten,
22 Euro