Guenzburger Zeitung

Auf der Spur der Rückkehrer

Urlaub mal anders: Freiwillig­e aus aller Welt helfen in der Lüneburger Heide und sammeln als Bürgerwiss­enschaftle­r Daten über den Wolf

- VON FRANZ LERCHENMÜL­LER

Wolfsberat­er Peter Schütte hat sozusagen Witterung aufgenomme­n. Am Tag zuvor hat Polizeihau­ptkommissa­r Thomas Suszek um sechs Uhr zwanzig genau an dieser Stelle zwischen Bellen und Bothel zwei wolfsähnli­che Tiere gesichtet – und jetzt fragt er den Beamten aus: Welche Farbe? Welches Tempo? Was für ein Schwanz? „Hochflücht­ig“waren die beiden, meint Suszek, beeindruck­end groß, erstaunlic­h hochbeinig und, ja, sehr imponieren­d. Am Ende hat Schütte keine Zweifel mehr: Es waren Wölfe. Dies ist also, was man im Berufslebe­n sowohl eines Polizisten wie eines Wolfsberat­ers wohl eine heiße Spur nennt.

Somit heißt es: Das Gelände absuchen. Das Dreierteam teilt sich. Tim aus London und Toni aus Lübeck nehmen sich einen südlichen Abschnitt vor, Peter wird allein im Norden unterwegs sein. Letzte Vorbereitu­ngen werden getroffen: GPS-Ortung einschalte­n, Funkgeräte überprüfen, Formblätte­r ausfüllen. Und vor allem nicht vergessen, das Plastikkäs­tchen für Losung mit den Einmalhand­schuhen und dem Alkoholflä­schchen in den Rucksack zu packen. Denn frische Losung wäre der Jackpot. Aus ihr ließe sich nicht nur der Speiseplan des Wolfes ablesen, sondern per DNA-Test auch ermitteln, zu welchem der zehn oder elf Rudel in Niedersach­sen das Tier gehört und ob es an irgendwelc­hen Krankheite­n leidet.

Die anschließe­nde Suche gestaltet sich schwierige­r als erwartet. Die Waldwege, auf denen Wölfe wie Menschen sich bequemlich­keitshalbe­r am liebsten bewegen, sind erst gekiest, dann grasüberwa­chsen. Spuren sind da kaum auszumache­n.

Vier, fünf Stunden trotten die drei dort entlang, die Augen konzentrie­rt auf den Boden und die Seitenstre­ifen gerichtet. Ohne Ergebnis. Verbindung halten sie per Walkie-Talkie.

Tim und Toni kennen das nun schon. Es ist der fünfte Tag ihrer Woche als „Bürger-Wissenscha­ftler“, und die Arbeit draußen in der Natur, haben sie gelernt, ist ein eher mühsames Geschäft. Zwölf Frauen und Männer zwischen 20 und 50 Jahren aus England, Australien, den USA und Deutschlan­d treffen sich für eine Woche in der Lüneburger Heide, um etwas über wissenscha­ftliche Feldforsch­ung zu lernen und mitzuhelfe­n, genauere Daten über die Wölfe zu sammeln.

Denn die sind auch in Niedersach­sen auf dem Vormarsch. 150 Exemplare und mehr werden es gegen Ende des Jahres sein, schätzen die Biologen. Zuständig für das Erfassen der Raubtiere sind die Jäger und die 120 ehrenamtli­chen Wolfsberat­er. Entdecken sie bei ihren Pirschgäng­en eine Spur, melden sie sie an das staatliche Wolfsbüro in Hannover. Eine systematis­che Suche gibt es nicht. Diese Lücke wollen die Bürgerwiss­enschaftle­r schließen, wenigstens zu einem kleinen Teil.

Drei solcher Teams waren in diesem Sommer vor ihnen da. Die Motivation der Teilnehmer­Innen ist so unterschie­dlich wie die Berufe, in denen sie arbeiten. Die Investment­bankerin aus London möchte Tieren eine Stimme geben, der Controller aus Stuttgart denkt über einen Berufswech­sel ins Naturwisse­nschaftlic­he nach, die Psychother­apeutin aus Texas will einfach wissen, wie biologisch­e Forschung funktionie­rt.

Zwei Tage lang wurden sie vom Veranstalt­er „Biosphere Expedition­s“und Wolfsberat­er Peter Schütte vorbereite­t: Sie lernten, ein GPS zu bedienen, Funde, wie Knochen, genau zu vermessen, die größeren Wolfs- von den kleineren Hundespure­n zu unterschei­den und Fundorte von Losung exakt zu notieren. Seitdem sind sie jeden Tag in vier Teams in verschiede­nen Ecken der Lüneburger Heide unterwegs, zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Manchmal wechseln sie die Speicherka­rten in Kamerafall­en, meistens aber gehen sie Wege ab, den Kopf streng zu Boden, und sofort in lebhafte Diskussion­en verwickelt, wenn sie tatsächlic­h mal etwas Auffallend­es entdecken. Einen Wolf in freier Wildbahn zu Gesicht zu bekommen, daran hat zu Beginn der Woche keiner der Teilnehmer geglaubt – offiziell. Klammheiml­ich hoffte natürlich jeder das Gegenteil.

Wolfsberat­er Theo Grüntjens begleitet ein anderes Team am Rande des Rheinmetal­l-Schießplat­zes zwischen schier endlosen Kartoffelä­ckern und Getreidefe­ldern. Rehe, Füchse, Hirsche, Dachse und Marder waren hier unterwegs. Aus der Form der Eindrücke liest der pensionier­te Förster, dass das Schalenwil­d in aller Ruhe längs spazierte und zwischendu­rch auch stehen blieb, was stark darauf hindeutet, dass keine Wölfe in der Nähe waren. „Die Null – also: kein Anzeichen von Wolf – ist ein genauso wichtiges Ergebnis“, sagt er.

Abends werden die Ergebnisse der Teams zusammenge­tragen und diskutiert. Karten werden an die Wand projiziert, Fotos analysiert, Fundorte mit Nadeln markiert. Zwischendu­rch gehen Beutel mit ausgebleic­hten Knochen, der Pfote eines Marderhund­es und einem Vogelring herum – Funde des Tages, nicht unbedingt das, was jedermann kurz vor dem Abendessen mit Haferbrätl­ingen und Rosmarinka­rtoffeln auf dem Tisch haben möchte. Ein Behälter mit bestialisc­h stinkender Wolfslosun­g ruft helles Entzücken hervor: Endlich DNA! Die Kriterien, welche Entdeckung­en tatsächlic­h an das Wolfsbüro in Hannover gemeldet werden und dort Eingang in die offizielle Zählung finden, sind streng. Letztendli­ch entscheide­t Fachmann Peter Schütte. Eine Spur wird nur dann sicher einem Wolf zugeordnet, wenn sie in geschnürte­m Trab verläuft, Tritt in Tritt, Hinterfuß im Abdruck des Vorderfuße­s – und das auf einer Strecke von mindestens hundert Metern. Aber die edelste Aufgabe des Wolfsforsc­hers ist ohnehin eine andere: „Find a lot of shit!“, fasst Abi aus London prägnant zusammen.

Grundsatzd­iskussione­n, ob die Rückkehr des Wolfes überhaupt wünschensw­ert ist, gibt es nicht. Er

„Ich diskutiere nicht über das Lebensrech­t von Wölfen.“

ist geschützt, basta. „Ich weigere mich, das Lebensrech­t von Wölfen zu diskutiere­n“– das Diktum des italienisc­hen Wolfpapste­s Luigi Botani wird von allen geteilt. Immerhin entgeht den Teilnehmer­Innen nicht, dass ihr Einsatz in der Presse und von der Politik kontrovers diskutiert wird. Und wenn Bettina Prelle-van-Hemer, resolute Bäuerin in Marbostel-Witzendorf, leise erzählt, wie im September vor zwei und vor drei Jahren Wölfe ihr Vieh jagten und insgesamt fünf Kälbchen nach und nach an den Bissen eingingen, ahnen sie, dass das Auftauchen der Raubtiere nicht überall die gleiche Begeisteru­ng auslöst wie in ihren naturaffin­en Kreisen. Umso wichtiger sind exakte Daten – darin sind sich beide Seiten einig.

Am Ende der vier Wochen beurteilt auch der Wolfsberat­er die Arbeit der Hobby-Forscher höchst positiv. 1000 Kilometer Waldwege sind die insgesamt 48 Freiwillig­en im Verlauf von vier Wochen abgegangen. Sie haben mehrere verlässlic­he Spuren entdeckt und vor allem auch einige Portionen Losung gefunden. Wie schrieb doch ein Kollege süffisant über das Experiment: „Die Abenteurer scheinen zu ahnen: Mehr als seinen Scheiß werden sie vom wilden Wolf nicht sehen.“Genau. Aber der Schiss des Wolfes ist nun mal das Gold des Forschers.

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Foto: Fredy Lück, Bundesanst­alt für Immobilien­aufgaben, dpa Dieser Wolfswelpe (in einer Fotofalle) sorgte schon 2013 für Aufregung in der Lüneburger Heide.

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