Wir sind dann mal unterwegs
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Viele der alten englischen Bahnhöfe sind mit ihrem gelungenen Mix aus Backstein, Stahl und Glas sehenswerte Baudenkmäler. Einer davon ist King’s Cross in London. Wieder ein Hotspot für Harry Potter-Fans, weil hier der HogwartsExpress im Film abfährt, vom geheimnisvollen Gleis 9 ¾. Um das zu erreichen, müssen Harry Potter und die anderen Zauberlehrlinge durch eine Wand schlüpfen. Daraus hat sich eine Touristenattraktion entwickelt. Tagtäglich lassen sich tausende von Besuchern vor einer Backsteinmauer in der Bahnhofshalle ablichten, an der das Vorderteil eines Gepäckwagens befestigt ist – gerade so als würde er in der Wand verschwinden. Jeden Abend um Punkt 22 Uhr wird die Szenerie wieder abgebaut. Unsere Kinder sind die letzten Fotomodelle an diesem Tag. Null Wartezeit. Was für ein Timing.
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London ist nur ein kurzer Zwischenstopp mit einer Übernachtung. Schwer beeindruckt stehen wir am nächsten Morgen vor dem St. Pancras-Bahnhof, einem Prachtbau, dessen viktorianische Architektur an eine Kathedrale erinnert. In der 70 Meter breiten, lichtdurchfluteten Halle startet der Eurostar nach Paris. Gerade mal zwei Stunden und15 Minuten dauert die Fahrt in die französische Hauptstadt. Als wir bei Folkestone in den Eurotunnel ein- und nur 20 Minuten später wieder aus französischem Boden auftauchen, will unsere jüngste Tochter gar nicht glauben, dass wir gerade den Ärmelkanal „unterquert“haben. Sie findet, Tunnelwände aus Glas statt aus Beton mit Blick in die Unterwasserwelt würden den Erlebniswert der Fahrt deutlich erhöhen.
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Der steigt wieder in Paris, wo am Gare du Nord eine knifflige Aufgabe wartet: der Transfer zum Gare de Lyon und zwar möglichst schnell, um dort den gebuchten TGV nach Lyon, das Ziel für die nächsten Tage, noch zu erreichen. Regionalzug oder doch Metro, welches Gleis, welche Linie? Die Landeier aus Bayern sind überfordert. Das bemerkt Habib, ein junger Afghane, der sich spontan als Guide durch den Pariser Metro-Dschungel anbietet. Wir rennen hinter ihm her, kriechen unter Drehkreuzen hindurch, vertrauen ihm blind bei der Wahl der Metrolinien und kommen tatsächlich rechtzeitig am Gare de Lyon an. Es sei ihm eine Ehre gewesen, betont Habib, der als Flüchtling in Paris gestrandet ist, als wir uns bedanken.
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Lyon ist vielleicht nicht so schick wie das Zentrum von Paris. Dafür können es sich die Lyoner noch leisten, in ihrer Stadt zu wohnen – und wir auch. 33 Euro pro Nacht kosten die zwei Doppelzimmer in der Mädchen-WG von Mélissa und ihren beiden Freundinnen. Die beiden sind während der Semesterferien ausgeflogen. Hohe Räume, stilvolle
Einrichtung – die Altbauwohnung in guter Lage ist nicht nur die mit Abstand günstigste, sondern auch die schönste Unterkunft auf unseren bisherigen Stationen. Wir frönen in Lyon dem Savoir-vivre, schlendern durch das Vieux Lyon, eine der größten erhaltenen RenaissanceAltstädte Europas und tauchen im Römischen Museum, einem avantgardistischen Betonbau, in die Antike ein. Dazu jeden Morgen duftendes Baguette und Croissants vom Bäcker gegenüber.
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Zu einer Interrail-Reise gehört auch eine Fahrt im Nachtzug. In den steigen wir in Dijon. Um es kurz zu machen: Es gibt Familienmitglieder, die auf ihren schmalen Pritschen kaum ein Auge zugemacht haben – wegen des ständigen Quietschens auf der kurvenreichen Strecke durch die Alpen und der nächtlichen Grenzkontrollen. Andere behaupten, sie hätten selten so gut geschlafen. Entsprechend unterschiedlich ist die Stimmungslage bei der Ankunft in Ancona. Sie reicht von Reisemüdigkeit bis hin zu großer Vorfreude aufs nächste Abenteuer, die Fährfahrt mit anschließenden Entspannungstagen auf Korfu. Zum Glück ist das Mittelmeer nicht die Nordsee. Bei harmlosem Seegang spielen wir auf Deck so lange Karten, bis uns die Augen zufallen. Die beste Vorbereitung für eine Nacht im Schlafsessel.
** Todmüde und zerknittert erreicht die Reisegruppe nach fast 48-stündiger Anfahrt per Zug, Schiff und Bus das Sunrock Backpackers Hostel an Korfus Westküste. Spätestens jetzt kennen die Kinder den Unterschied zwischen Reisen und Urlaub machen. Aber welch ein Blick von der Terrasse übers Meer. Als wäre hier der Film „Mamma Mia“gedreht worden und als würde uns gleich Donna alias Meryl Streep warmherzig empfangen. Donna heißt hier im Sunrock Backpackers Hostel Madalena. Und wie im Film laufen auch bei ihr die Geschäfte alles andere als gut. Dabei ist die Lage schlichtweg fantastisch und das Frühstück mit Aussicht nach Meinung der Kinder nicht zu toppen.
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Noch heute schwärmen sie davon. Genauso wie von den handgemachten Pommes in Amsterdam, den blökenden Schafen an schottischen Stränden, Gleis 9 ¾ in London King’s Cross, der morgendlichen Joggingrunde am Rhône-Ufer, dem 7-Uhr-Frühstück in der Bahnhofshalle von Milano Centrale, der Robbe Annabel im Hafenbecken von Mallaig, dem Dorfplatz im griechischen Liapades… All die Eindrücke hat die ältere Tochter in einem Reisetagebuch festgehalten. Ihrer Schwester mussten die Eltern versprechen, so eine Reise noch einmal mit ihr zu unternehmen. Noch mehr in Europa entdecken. Lieber heute als morgen.