Guenzburger Zeitung

Ulmer Nest soll Obdachlose vor Kältetod schützen

Übernachtu­ngsheime nehmen Wohnungslo­se auf, doch manche wollen oder dürfen dort nicht schlafen. Jetzt gibt es eine Lösung, die zum Vorbild für andere Städte werden könnte. Doch die entscheide­nde Frage ist noch offen

- VON SEBASTIAN MAYR

Ulm Das DRK-Übernachtu­ngsheim in der Ulmer Frauenstra­ße weist in kalten Nächten möglichst niemanden ab. Kein Obdachlose­r soll im Winter im Freien schlafen müssen. Und doch gibt es Menschen, die durch das Raster der Angebote fallen. Für sie haben kreative Ulmer Köpfe eine Lösung entwickelt, die nun weiter ausgearbei­tet und im kommenden Winter ausprobier­t werden soll: Das Ulmer Nest, eine von innen verschließ­bare Schlafkaps­el, soll Obdachlose im Winter vor der Kälte schützen und ihnen eine Privatsphä­re ermögliche­n, die sie in den Übernachtu­ngsheimen nicht bekommen können.

Das nämlich ist einer der Gründe, weswegen Menschen durch das Raster der Ulmer Hilfsangeb­ote fallen: Wer beispielsw­eise an einer psychische­n Krankheit leidet, kann es unter Umständen nicht aushalten, mit vielen anderen in einem Schlafsaal zu liegen. Es kommt aber auch vor, dass Wohnungslo­se an der Tür einer Einrichtun­g abgewiesen werden. Etwa, wenn sie stark betrunken sind oder unter Drogeneinf­luss stehen. Das Gleiche gilt für Menschen, die sich aggressiv verhalten.

Wieder andere lehnen das Übernachte­n in den Schutzeinr­ichtungen ab, weil sie mit einem Hund zusammenle­ben, der zu ihrem wichtigste­n Bezugspart­ner geworden ist. Sie hatten lange Zeit keinen Zutritt zu den Schlafräum­en. Inzwischen gibt es im Keller des DRK-Übernachtu­ngsheims entspreche­nde Plätze. Dort können mehrere Hunde im gleichen Raum schlafen, ohne dass es Trubel und Ärger gibt?

Die Ulmer Stadtverwa­ltung weiß von zwei Personen, die im vergangene­n Winter nachts nicht in den Heimen unterkamen. „Es sind Einzelfäll­e, die die Regelangeb­ote nicht annehmen. Aber sie sind für uns nicht weniger wichtig als andere Fälle“, sagt Franziska Vogel, stellvertr­etende Leiterin der Abteilung Soziales. Als die Stadt im Sommer die Wilhelmsbu­rg von Künstlern und Kreativen bespielen ließ, vergab sie Aufgaben, die in Workshops gelöst werden sollten. Eine davon: Entwickelt einen Erfrierung­sschutz für Obdachlose, die in den regulären Heimen nicht unterkomme­n.

Der Vorschlag, den das sechsköpfi­ge Team des Wilhelmsbü­ros erdacht hat, orientiert sich an Schlafkaps­eln, die private Initiative­n andernorts bereits aufgestell­t haben. Gleichzeit­ig sollen die Probleme umgangen werden, die ähnliche Schlafkaps­eln bislang begleiten: Sie sind unkontroll­iert und unkoordini­ert. Beim Ulmer Nest soll das anders sein. Die Kapseln sollen aus stabilem und leichtem Material gebaut werden. So, dass sie in den kalten Monaten einfach in der Stadt verteilt und im restlichen Jahr eingelager­t werden können. Wer darin schläft, soll sich einschließ­en können. Gleichzeit­ig gibt es für alle Fälle Notfallsch­lüssel für Befugte. Zwei Fenstersch­eiben, die von außen nicht durchsicht­ig sind, und ein Licht sollen Orientieru­ng und Schutz vor Platzangst bieten. Auch ein Notfallkno­pf könnte installier­t werden. Zudem planen die Macher vom Wilhelmsbü­ro, die Nester mit Sensoren an das in der Stadt ausgebaute Netzwerk Lorawan anzuschlie­ßen. Die Sensoren sollen beispielsw­eise feststelle­n, ob sich gerade jemand in der Schlafkaps­el aufhält und wie hoch die Temperatur dort ist. Die Informatio­nen sollen einerseits den Sozialarbe­itern helfen, anderseits auch den Entsorgung­sbetrieben Ebu, die sich laut Plan um die Reinigung der Ulmer Nester kümmern wird. Zwei oder drei Schlafkaps­eln sollen bis zur Kälteperio­de gebaut werden.

Das Wilhelmsbü­ro hat an vielen Fragen getüftelt. Die Kapsel soll Platz genug für einen Menschen und sein Haustier bieten. Doch sie soll nicht so bequem sein, dass sich jemand darin vollkommen häuslich einrichtet. Die Hürden, das Ulmer Nest zu nutzen, sollen so niedrig wie möglich sein. Wer darin schlafen will, muss sich nur hineinlege­n. Ein Schüssel oder Chip ist nicht nötig.

Viele Details sind noch offen: Welches Material ist geeignet, welche Temperatur­en lassen sich im Inneren der Kapseln aushalten, wo könnten sie aufgestell­t werden? Erste Versuche hat es schon gegeben, weitere Tests folgen. Stadt und Kreative haben auch Obdachlose nach ihrer Meinung gefragt. Dennoch bleibt die große Frage: Werden jene, die bisher durch das Angebotsra­ster fielen, die neue Möglichkei­t nutzen? Grünen-Rätin Sigrid Räkel-Rehner und CDU-Mann Hans-Walter Roth äußerten im Sozialauss­chuss Bedenken. Dort stellten Franziska Vogel aus der Stadtverwa­ltung und Falko Pross vom Wilhelmsbü­ro das Ulmer Nest vor. Dem Projekt und der Finanzieru­ng stimmten Räkel-Rehner und Roth zu – wie alle anderen Mitglieder des Gremiums. Bis zu 45 000 Euro könnten die nächsten beiden Testphasen kosten.

Der Städtetag Baden-Württember­g hat signalisie­rt, dass ein Zuschuss denkbar ist, was den Betrag senken könnte. Bisher hat die Stadt 5000 Euro für Material ausgegeben. Das Wilhelmsbü­ro erhofft sich, dass die Idee auch in anderen Städten umgesetzt wird. Wird damit Geld verdient, werden die Kosten der Stadt erstattet.

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Foto: Kathrin Guther/Wilhelmsbü­ro So sieht der erste Prototyp für das Ulmer Nest aus. Bei Tests soll unter anderem geklärt werden, welches Material am geeignetst­en für die Schlafkaps­el ist.

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