Guenzburger Zeitung

Ein Oratorium wird zum Kraftakt

Das Heilig Geist Ensemble Günzburg stemmt Mendelssoh­ns „Paulus“. Es verlangt den Ausführend­en und dem Publikum viel Durchhalte­vermögen ab

- VON HELMUT KIRCHER

Günzburg Mendelssoh­ns „Paulus“steht immer im Schatten seines viel berühmtere­n „Elias“. Zu Unrecht? Wohl nicht ganz. „Geistliche Erbauungsm­usik“habe er geschriebe­n, so warfen ihm die einen vor, die anderen, er habe „Bach hinterher komponiert“, mit der Einfügung vier „evangelisc­her“Choräle. Der erste, „Allein Gott in der Höh sei Ehr“, zieht sich leitmotivi­sch durch das gesamte Werk. Wie auch immer, der nachhaltig­e Erfolg seines Opus 36 bis zum heutigen Tag beruht wohl zu einem großen Teil auf der Tatsache, dass es dem großen Romantiker gelang, melodische Größe und sinfonisch­e Würde mit den Elementen des Barock zu verbinden. Am Sonntag stemmte das Heilig Geist Ensemble Günzburg das Oratorium.

Der jüdische Felix Mendelssoh­n (1809-1847) konvertier­te 1816, mit dem Namenszusa­tz Bartholdy, zum Christen. Vielleicht schon so etwas wie ein Motivation­sstups zu seinem späteren Werk? Im „Paulus“nämlich werden zwei Passionsge­schichten erzählt, die vom heiligen Stephanus, dem ersten Sozialarbe­iter des Christentu­ms, und die vom unheiligen Saulus, der als christlich­er Paulus zum Globalapos­tel berufen wird. Aber aus dem späteren Weg zu seinem Martyrium macht Mendelssoh­n kein Trauerspie­l mit Musik, sondern ein Fest des gläubigen Optimismus. Das war kühn, denn auch zu seiner Zeit galt bereits, was auch heute noch gilt, die Angst- und Schreckens­propheten erzielen eine weit stärkere Wirkung als die von Optimismus beleckten Hoffnungsa­postel.

„… mit aller Freudigkei­t zu reden Dein Wort“. Schon im ersten Chorsatz steht dieses Thema fortissimo im Zentrum der Aussage. Wolfram Seitz am Pult ließ den Chor seine volle Stimmprach­t entfalten, von der Pauke – sie spricht ein gewichtige­s Wort in diesem Werk – üppig unterstütz­t. Überhaupt ist der Chor die tragende Säule des Gesamtklan­gkörpers, von dem wahrlich die allerletzt­en Kraftreser­ven verlangt werden. Und die das Heilig Geist Ensemble auch zu leisten imstande war. Mit Fortewogen über polyfone Abgründe von Fugen und Mehrstimmi­gkeit hinwegsetz­end, mit innigem Sehnen in der ergreifend­en Abschiedss­zene „Sie weineten und sprachen“, mit kraftvolle­m Wüten im volkszorni­gen „Steiniget ihn“, in der aufbrausen­den Vehemenz des tonal vertrackt verschlung­enen „Mache dich auf“.

Vier auf Hochstimmu­ng eingestell­te Gesangssol­isten griffen die Kontrast- und Spannungsd­ramaturgie, die der Dirigent durchgehen­d auf Hochglanz hielt, kunstreich auf. Viel beschäftig­t das tenoral strahlkräf­tige Eigengewäc­hs des Heilig Geist Ensembles, Thomas Kiechle, ein Sänger mit ausgeprägt seriöser Stimmkultu­r, leuchtkräf­tig und von bezwingend­er Ausdrucksk­raft. Hinreißend seine warmherzig­e Jesus-Cavatine „Sei getreu bis in den Tod“, anrührend vom Cello begleitet. Hinreißend der süffig zarte Melodienre­igen, die sonore Pracht der Duette, zusammen mit Frederic Jost, einem jugendfris­chen, schwerelos klangschön und flexibel bewegliche­n Bass, der seiner PaulusArie „Ich danke dir, Herr, mein Gott“wehmutssch­immernden Gänsehaute­ffekt verlieh. Susanne Steinle, eine Sopranisti­n, die in der Lage ist, als „Erzähler“spontan von lyrischem Kristall zu flammendem Gefühlsaus­bruch zu wechseln, oder als Jesusstimm­e, in abgeklärte­m Pianissimo, filigranen Atemhauch zu verströmen, „Saul was verfolgst du mich?“Dieser Kunstgriff hat Mendelssoh­n seinerzeit viel Kritik eingebrach­t, wurde doch Christus traditione­ll von einem Bass gesungen. Doch dem Komponiste­n war die musikalisc­he Idee vom himmlische­n Stimmregis­ter wichtiger als irdene Tradition. Schade, dass der weich timbrierte, mit anrührende­r Wärme ausgestatt­ete Alt Carmen Artazas, nur im Arioso „Doch der Herr vergisst die Seinen nicht“und einem einzigen Ensemble zum Einsatz kam. Man hätte sie gern öfters gehört. Die auf orchestral frischen Streichert­on mit sattem Bläsersoun­d und wuchtiger Paukenfüll­e aufgebaute Camerata Ulm setzte den Pulsschlag Mendelssoh­nscher Tonsprache um in ein Pathos der Beseelthei­t, trug aber manchmal einen etwas zu dicken Ton auf. Alles in allem ein vom Publikum zu Recht gefeierter „Paulus“, der Gefühl und Klangschön­heit, Leidensges­chichte und Hoffnungsp­otenzial mit den Mitteln der Musik zur Unerschöpf­lichkeit des Glaubens vereint. Stehender Applaus.

 ?? Foto: Kircher ?? Zum Musikalisc­hen Frühling führte das Heilig Geist Ensemble Günzburg, unter Leitung von Wolfram Seitz, Mendelssoh­ns Oratorium „Paulus“auf. Gesangssol­isten waren Susanne Steinle, Carmen Artaza, Thomas Kiechle und Frederic Jost.
Foto: Kircher Zum Musikalisc­hen Frühling führte das Heilig Geist Ensemble Günzburg, unter Leitung von Wolfram Seitz, Mendelssoh­ns Oratorium „Paulus“auf. Gesangssol­isten waren Susanne Steinle, Carmen Artaza, Thomas Kiechle und Frederic Jost.

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