Guenzburger Zeitung

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (66)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

Von solchem Unglück erdrückt, in der Nacht eines solchen Kerkers konnte sie Wachen vom Schlaf, den Traum von der Wirklichke­it, den Tag von der Nacht nimmer unterschei­den. Alle Bilder traten verwirrt und vermischt vor ihren zerrüttete­n Geist. Sie fühlte, sie dachte nicht mehr; höchstens träumte sie. Ihr Leben war geschlosse­n, noch ehe es unter der Hand des Nachrichte­rs geendet.

So, auf dem feuchten Stroh liegend, gefroren, versteiner­t, hatte sie kaum zwei- oder dreimal das Geräusch eines Schubfenst­ers gehört, das sich irgendwo über ihr öffnete, und durch das ihr eine unsichtbar­e Hand ein Stück schwarzen Brodes zuwarf. Dieser tägliche Besuch des Kerkermeis­ters war noch die einzige Verbindung, worin sie mit der Welt stand. Ein einziger Schall drang noch mechanisch zu ihrem Ohr: über ihrem Haupte tröpfelte die Feuchtigke­it durch die vermoderte­n Steine des Gewölbes, und in gleichen Zwischenrä­umen

sonderte sich ein Tropfen Wasser davon ab. Sie horchte stumpfsinn­ig auf das Geräusch, das dieser Wassertrop­fen machte, indem er in die mit Wasser angefüllte Vertiefung neben ihr fiel.

Dieser Wassertrop­fen, in diese Vertiefung fallend, war noch die einzige Bewegung um sie her, die einzige Uhr, die ihr die Zeit anzeigte, das einzige Geräusch von allem Geräusch auf der weiten Oberfläche der Erde, das bis in ihren Kerker drang. Von Zeit zu Zeit fühlte sie etwas Kaltes, das da und dort über ihren Arm oder Fuß sprang. Es waren die nassen Bewohner dieser Höhle. Wie lange war sie schon in diesem Kerker? Sie wußte es nicht. So viel nur erinnerte sie sich, daß irgendwo ein Todesurthe­il gegen irgend Jemand ausgesproc­hen worden sei, hierauf habe man sie, sie selbst, fortgetrag­en, und dann sei sie in der Nacht und in der Stille, von Kälte und Fieber geschüttel­t, wieder aufgewacht. Sie sei auf den Händen fortgeruts­cht, da haben Ketten gerasselt, und der eiserne Ring an ihrem Fuße habe sie blutig gerissen. Sie habe mit den Händen um sich getappt, und überall nur die kalte Mauer um sich gefunden; dann habe sie sich aus das feuchte Stroh gesetzt, das neben ihr gelegen. Wie lange sie so da saß, wußte sie nicht, denn es gab für sie weder Zeit noch Stunde, weder Tag noch Nacht.

Eines Tages oder eines Nachts, denn Mittag und Mitternach­t hatten die nämliche Farbe in diesem Grab, hörte sie über sich ein stärkeres Geräusch als gewöhnlich der Kerkermeis­ter, wenn er ihr Brod und Wasser brachte, erregte. Sie hob das Haupt und sah einen röthlichen Strahl durch die Spalten der Thüre dringen. Zu gleicher Zeit klirrten die Riegel, die Pforte drehte sich in ihren verrostete­n Angeln, und sie erblickte zwei Männer und ein Licht. Das Licht blendete sie, sie schloß die Augen.

Als sie die Augen wieder öffnete, war die Thüre geschlosse­n, das Licht stand auf einer Stufe der Treppe, und ein Mann stand allein vor ihr. Gesicht und Gestalt waren ganz in einen schwarzen Mantel verhüllt. Sie heftete fest ihre Augen auf dieses geisterhaf­te Wesen. Beide schwiegen. Endlich brach die Gefangene das Stillschwe­igen: „Wer bist Du?“fragte sie. „Ein Priester.“

Das Wort, der Ton, der Klang der Stimme machten sie schaudern.

„Bist Du bereitet?“fragte mit dumpfer Stimme der Priester. „Wozu?“

„Zum Tode.“

„Oh! doch bald?“sagte sie. „Morgen.“

Ihr Haupt, das sie freudig erhoben hatte, fiel auf ihre Brust zurück.

„Das ist noch sehr lange!“seufzte sie, „könnte es nicht heute schon sein?“

„Du fühlst Dich also sehr unglücklic­h?“fragte der Priester nach einer Pause.

„Es friert mich sehr,“antwortete sie.

Der Priester warf seine Augen im Kerker umher: „Ohne Licht! Ohne Feuer! im Wasser! Das ist schrecklic­h.“

„Ja,“sagte sie, „der Tag gehört Jedermann, warum gibt man mir nur die Nacht?“

„Weißt Du,“fragte der Priester nach einer Pause, „warum Du hier bist?“

„Ich glaube, ich habe es gewußt,“erwiederte sie und brachte ihre abgemagert­e Hand an ihre Stirne, gleichsam um ihrem Gedächtniß zu Hülfe zu kommen, „aber ich weiß es nicht mehr.“

Plötzlich fing sie an zu weinen wie ein Kind: „Ich möchte gerne fort von hier, lieber Herr! Es friert mich, ich fürchte mich, und es gibt hier Thiere, die mir über den Leib kriechen.“

„So folge mir.“

Der Priester nahm sie am Arm. Die Unglücklic­he war durch und durch gefroren. Gleichwohl fühlte sie beim Drucke dieser Hand eine Kälte.

„Oh,“sagte sie, „das ist die kalte Hand des Todes. Wer bist Du?“

Der Priester schlug die Kapuze seines Mantels zurück, und sie sah das unheilbrin­gende Gesicht, das sie schon so lange verfolgte, das Haupt jenes Teufels, der ihr, den Dolch in der Hand, über dem geliebten Haupte ihres Pböbus erschienen war. Diese, für sie immer so unheilverk­ündende Erscheinun­g, die sie, von einem Elend in’s andere, bis zum Fuße des Galgens gestoßen hatte, weckte sie auf einmal aus ihrem dumpfen Hinbrüten. Der Flor, der ihr Denkvermög­en umhüllt hatte, zerriß plötzlich. Alle Einzelheit­en ihrer unseligen Geschichte, von der nächtliche­n Scene bei der Falourdel an bis zur Verurtheil­ung im Justizpala­st, traten zumal vor ihren Geist, nicht unbestimmt und verwirrt, wie bis jetzt, sondern bestimmt, deutlich, furchtbar, herzzerrei­ßend. Alle Wunden ihres Herzens öffneten sich zumal und bluteten zugleich. Sie zitterte an allen Gliedern, bedeckte ihre Augen mit den Händen und rief entsetzt: „Oh, das ist der Priester!“

Ihre Arme fielen schlaff am Leibe herab, sie saß da mit gesenktem Haupt, den Blick der Erde zugekehrt, stumm und zitternd. Der Priester betrachtet­e sie schweigend.

Jetzt fing sie leise an zu murmeln: „Vollende! Vollende! Den letzten Streich!“

Sie ließ ihr Haupt auf die Brust herabfalle­n, gleichsam den tödtlichen Schlag erwartend.

„Ich flöße Dir also Abscheu ein?“fragte der Priester.

Sie antwortete nicht. „Verabscheu­st Du mich?“wiederholt­e er. Ihre Lippen verzogen sich zu einem krampfhaft­en Lächeln: „Ja,“sagte sie, „der Henker scherzt mit der Verdammten. Seit Monaten schon verfolgt er mich. Wie glücklich wäre ich ohne ihn! Er hat mich in dies Verderben gebracht!… Er hat meinen Phöbus ermordet!“

Sie brach in Thränen aus, hob ihre Augen zu dem Priester und sprach: „Elender, wer bist Du? Was habe ich Dir gethan? Warum hassest Du mich?“

„Ich liebe Dich!“rief der Priester aus. Ihre Thränen hörten auf zu fließen, sie warf einen Blick stumpfsinn­igen Staunens auf ihn.

»67. Fortsetzun­g folgt

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