Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (67)
Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestalteten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenkommt. Doch der Hauptprotagonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg
Der Priester fiel zu ihren Füßen nieder, betrachtete sie mit flammenden Augen und rief: „Ich liebe Dich! Hörst Du das?“
„Welche Liebe!“sagte die Unglückliche schaudernd.
„Die Liebe eines Verdammten.“Beide schwiegen einige Minuten; sie erlagen unter dem Gewicht ihrer Gemüthsbewegungen: er wahnsinnig, sie stumpfsinnig.
„Höre,“sagte endlich der Priester ruhig und kalt, „ich will Dir mein ganzes Herz öffnen, ich will Dir sagen, was ich bis jetzt mir selbst kaum gestanden habe. Höre, junges Mädchen! Ehe ich Dich kannte, war ich glücklich.“
„Und ich!“seufzte sie mit schwacher Stimme.
„Höre mich! Ja, ich war glücklich, ich glaubte es wenigstens zu sein. Ich war rein, meine Seele voll Klarheit. Kein Haupt erhob sich stolzer und strahlender, als das meinige. Priester fragten mich um Rath über die Keuschheit, Gelehrte über die Gelehrsamkeit. Die Wissen
schaft war mir Alles, sie war meine Schwester, und eine Schwester genügte mir. Nicht daß ich nie in Versuchung gerathen wäre, mein Fleisch empörte sich mehr als einmal gegen die Strenge des Gesetzes, die den Priester an den kalten Stein des Altars fesselt. Aber Nachtwachen, Studien, Fasten und Beten gaben der Seele die Herrschaft über den Körper zurück. Ich floh die Weiber und mied ihren Umgang. Wenn mich der Satan mit unreinen Händen versuchte, warf ich mich in die Arme der Wissenschaft; ich schwang mich in höhere Regionen empor, wo die ewige Wahrheit thront, und ließ den Schmutz der Erde tief unter mir. So lange der höllische Dämon nur unbestimmte Weiberschatten, die einzeln in der Kirche, auf der Straße an mir vorüberschwebten, aussandte, mich zu versuchen, behielt ich den Sieg. Ist er mir nicht geblieben, so ist Gott Schuld, der dem Teufel Macht über die Menschen gegeben hat. Höre! eines Tages…“
Hier hielt der Priester inne, und ein tiefer, schwerer Seufzer stieg mühsam aus seiner Brust empor. „Eines Tages,“fuhr er fort, „stand ich am Fenster meiner Zelle. Ich las ein Buch, ich weiß nicht mehr welches, denn Alles schwimmt wie ein Nebel vor meiner Erinnerung. Ich las. Ich hörte den Schall eines Tambourins. Ich ärgerte mich, in meinen Betrachtungen auf solche Art unterbrochen zu werden. Ich sah auf den Platz hinab. Es war Mittag, die Sonne strahlte in ihrem hellsten Glanze, ein Wesen tanzte auf dem Platze, ein Wesen, so schön, daß Gott es der heiligen Jungfrau vorgezogen und zu seiner Mutter gewählt haben würde, wenn es gelebt hätte, als er Mensch ward. Dieses Wesen tanzte im Strahl der Sonne, strahlender als sie. Sein Anblick bezauberte mich, ich konnte die Augen nicht wegwenden, ich fühlte, daß ein Zauber mich fesselte. Du, Mädchen, Du warst dieses Wesen.“
Der Priester athmete aus tiefer Brust und schwieg eine Weile. Dann fuhr er fort: „Ich war geblendet, ich wollte meine Augen wegwenden und vermochte es nicht. Ich rief mir die Fallstricke in’s Gedächtniß zurück, die mir der Satan schon früher gelegt hatte. Vergebens, der Zauber war unbezwinglich. Das Wesen, das in meine Augen strahlte, besaß jene übernatürliche Schönheit, die nur vom Himmel oder von der Hölle kommen kann. Das war kein gemeines Wesen, aus ein wenig Erde zusammengeknetet und im Innern nur sparsam erhellt durch das flackernde Licht einer Weiberseele. Es war ein Engel, aber ein Engel der Finsterniß; ein Engel der Flamme, nicht des Lichts. So dachte ich; da erblickte ich neben Dir eine Ziege, ein Thier des höllischen Sabbaths; sie betrachtete mich mit höhnischen Blicken. Die Mittagssonne hatte ihr feurige Hörner gegeben. Jetzt zweifelte ich nicht mehr an den Fallstricken des Satans, er hatte Dich aus der Hölle gesandt, mich zu verderben. Ich glaubte es.“
Der Priester warf einen durchdringenden Blick auf die Gefangene und fügte kalt hinzu: „Ich glaube es noch. Der Zauber aber hatte bereits gewirkt. Dein Tanz hatte meine Sinne verwirrt, das Werk der Finsterniß vollendete sich in mir, ich fühlte es. Die himmlischen Hüter meiner Seele waren eingeschlafen, und ich gab mich mit Lust dem geheimnißvollen Zauber hin. Jetzt fingst Du an zu singen. Dein Gesang war noch bezaubernder als Dein Tanz. Fliehe, Elender, fliehe! Ich war an den Boden gefesselt. Meine Füße waren versteinert, wie der Boden, der sie trug. Der Zauber war stärker als ich. Er fesselte meine Augen, mein ganzes Wesen, bis Du aufhörtest zu singen und zu tanzen. Du warst verschwunden und noch verblendete der Zauber meine Augen, ich sah Deine verführerischen Tänze, ich hörte die schmeichelnden Töne Deines Gesangs. Halb sinnlos fiel ich in die Fenstervertiefung zurück. Die Vesperglocke weckte mich aus meinen Träumen. Ich erhob mich, ein anderer Mensch. Der Zauber der Hölle hatte mich ergriffen und mein Innerstes durchdrungen. Mein guter Geist war von mir gewichen. Die Hölle umgab mich mit ihren tausend Lockungen, ich konnte, ich wollte nicht fliehen.“
Der Priester hielt abermals inne und fuhr dann fort: „Von diesem Tage an war ein fremder, unsauberer Geist in mich eingezogen. Ich versuchte alle Mittel, ihn auszutreiben: Gebet, Kasteiung, Arbeit. Alles vergebens! Die Wissenschaft gewährte mir keinen Trost mehr, sie kämpfte umsonst gegen ein mit Leidenschaften erfülltes Gemüth. Nahm ich ein Buch zur Hand, so schwebte zwischen mir und ihm der Schatten der Tänzerin, das reizende Bild der Sängerin.
„Der Zauber verfolgte mich auf jedem Schritt, immer wiedertönte Dein Gesang in meinen Ohren, immer sah ich Deine Füße in der Luft schweben. Da beschloß ich Dich aufzusuchen, Dich noch einmal zu sehen, das Ideal mit der Wirklichkeit zu vergleichen, Fleisch und Bein zu berühren, und so vielleicht den höllischen Zauber zu zerstören. Ich sah Dich wieder. Unglückseliger! Nachdem ich Dich zweimal gesehen, wollte ich Dich tausendmal sehen, Dich für immer besitzen. Jetzt war kein Halt mehr auf dem abschüssigen Pfad, der zur Hölle führt. Die Flügel meines Geistes waren mit Stricken der Hölle gefesselt. Ich irrte unstet herum, gleich Dir. Ich wartete auf Dich unter den Hallen, ich suchte Dich in den Straßen, ich schaute nach Dir von der Höhe meines Thurmes. Jeden Abend kehrte ich bezauberter, verzweifelter, verlorener in meine Zelle zurück.
„Ich wußte jetzt, wer Du warst: Aegypterin, Zigeunerin, Zitterspielerin. Wie konnte ich noch an Zauberei zweifeln? Höre! Ich hoffte durch einen Prozeß den Zauber zu lösen. Eine Hexe hatte Bruno d’Ast bezaubert, er ließ sie verbrennen und war geheilt. Das wußte ich und wollte das nämliche Mittel versuchen.
„Ich wollte Dich aufheben und dem heiligen Amte übergeben. Ich versuchte es in einer finstern Nacht. Wir waren unser Zwei. Wir hielten Dich bereits fest, da kam jener elende Soldat und befreite Dich.
» 68. Fortsetzung folgt