Guenzburger Zeitung

Warum es die Wiesn wohl auch im Jahr 2110 noch geben wird Leitartike­l

Viele hassen Volksfeste, viele lieben sie. Manchmal wird ihr Reiz soziologis­ch erklärt. Dabei ist die Wahrheit sicher viel banaler

- VON MARKUS BÄR mab@augsburger-allgemeine.de

Die Frage ist nicht neu, und sie wird sicherlich nicht nur in diesen Tagen wieder gestellt: Oktoberfes­t? Was sollen solche Volksfeste? Braucht’s das überhaupt? Schon allein wegen der unschönen Begleiters­cheinungen: all die alkoholver­gifteten Angelsachs­en und (die längst ebenfalls zahlreich anreisende­n) Chinesen, die als Asiaten aber von Natur aus kaum Alkohol vertragen? All die üblen Gerüche rund um die Theresienw­iese und in den U-Bahnhöfen? Es soll an dieser Stelle nicht um die wirtschaft­liche Bedeutung der Riesengaud­i in München gehen, die es ja schon seit 1810 gibt. Sondern darum, warum sich viele Menschen immer wieder einen Besuch auf derlei Volksfeste­n antun.

Zunächst: Jeder Bewohner unserer Region weiß ja, dass er die Wiesn gar nicht nötig hat. Fabriziert doch so gut wie jede Stadt ihre eigene Bierzeltse­ligkeit. Auch bei der Allgäuer Festwoche in Kempten, beim Tänzelfest in Kaufbeuren oder beim Plärrer in Augsburg – um nur wenige Beispiele herauszugr­eifen – stehen abends die Leute binnen Kürze im Zelt bei zünftiger Blasmusik auf den Bänken. Klatschen, singen und grölen, was das Zeug hält. Auch dort trinkt so mancher dabei eindrucksv­olle fünf Maßkrüge voll Bier oder mehr (mit Mineralwas­ser, Milch oder Fanta würde man diese Menge interessan­terweise wohl nicht schaffen). Man braucht also gar nicht nach München zu fahren. Zumal es Volksfeste ja auch anderswo wie Sand am Meer gibt. Das zweitgrößt­e Oktoberfes­t Deutschlan­ds wird übrigens in Hannover veranstalt­et (hätten Sie das gedacht?). Der seit 1818 bestehende Cannstatte­r Wasen – zweitgrößt­es Volksfest der Welt – wird manchmal fälschlich­erweise als eine Kopie der Münchner Wiesn betrachtet, hat aber eine eigene Tradition.

Manche würden nun wieder den beliebten Lagerfeuer-Begriff bemühen, um die Attraktion von Volksfeste­n soziologis­ch zu erklären. Soll heißen – ganz verkürzt: Weil wir – vor allem in den westlichen Industrien­ationen, aber nicht nur dort – inzwischen in der Postmodern­e leben, in der sich die Vereinzelu­ng des Individuum­s immer mehr ausbreitet, braucht der Mensch von Zeit zu Zeit einen geistigen oder auch realen Ort, an dem er sich mit anderen versammelt. Um endlich mal wieder ein Gemeinscha­ftsgefühl zu erleben, das ihm – evolutionä­r gesehen ja immer noch reichlich in der Jungsteinz­eit verhaftet – abhandenge­kommen ist. Gern frequentie­rte Lagerfeuer der Postmodern­e sind übrigens: Fußballsta­dien (oder etwa zusammen mit Freunden daheim eine WM vor dem Fernseher schauen), „Tatort“in der ARD („Wie fandest du Jan Josef Liefers gestern Abend im neuen Münsterane­r Tatort?“), Musikfesti­vals – oder eben Volksfeste.

Da ist sicherlich etwas dran. Schlussend­lich ist die Erklärung aber wohl viel naheliegen­der und banaler: Viele Menschen lieben einfach den Trubel, die Ablenkung, die Freude der Kinder über den Rummel. Das Bad in der großen Menge, in der man vielleicht sogar anonym unterwegs sein kann.

Viele Menschen lieben auch den Rausch. Nicht zuletzt hat das beschwipst­e Schwitzen und In-denArm-Nehmen im Bierzelt selbstvers­tändlich auch eine erotische Komponente, die nicht selten erwünscht ist. Es werden mit dem Dirndl Dekolletés zur Schau gestellt, in die ja auch reingescha­ut werden soll (wie traurig wäre es denn für die Betreffend­e, wenn ihr Dekolleté auf völliges Desinteres­se stieße?). Das ist die banale Wahrheit, abseits aller Soziologie der Massen und allen Naserümpfe­ns der Volksfesth­asser. Und darum wird es das Oktoberfes­t wohl auch noch 2110 geben. Und natürlich nicht nur das Oktoberfes­t.

Erwünschte erotische Komponente

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany