Guenzburger Zeitung

Das Rätsel um Leon

Als der Bub vor fünf Monaten zur Welt kam, sagte die Ärztin im Kreißsaal plötzlich: „Die Hand fehlt.“Inzwischen werden in Nordrhein-Westfalen immer mehr Fälle von Kindern bekannt, die mit Fehlbildun­gen geboren wurden. Warum die Ursachensu­che so schwierig

- VON HUBERT WOLF UND SONJA DÜRR

Gelsenkirc­hen/Ulm Leon tut, was alle Babys tun, wenn sie im Buggy durch die Straßen geschoben werden: Er macht sich einen Spaß daraus. Fällt das Fläschchen neben den Wagen – sieht es aus wie Absicht. Kommt das Kuscheltie­r geflogen – sollte wohl so sein. Mama bückt sich schon. Oder Papa. Und dann strahlt Leon. „Die Sachen fliegen ziemlich viel“, sagt Laura May, Leons Mutter. „Socken an den Füßen bleiben auch nicht lange dran.“Babys sind so. Auch Leon. Wer nicht genau hinsieht, käme nicht darauf, dass der Bub keine rechte Hand hat. Dass er nie eine hatte.

Laura May, 23, ist es wichtig, in diesen Tagen ihre Geschichte zu erzählen. In diesen Tagen, in denen sich so viele für die Nachrichte­n interessie­ren, die aus den Geburtskli­niken in Nordrhein-Westfalen kommen. Seit klar wird, dass dort in den vergangene­n Monaten mehrere Babys zur Welt gekommen sind, bei denen jeweils eine Hand fehlt. Drei Fälle sind bekannt in Gelsenkirc­hen, je einer in Datteln, in Bochum, drei im Kreis Euskirchen – und Leons Fall aus Dorsten.

So viele Fälle in so kurzer Zeit? Kann diese Häufung noch Zufall sein? Statistisc­h erklärbar? Oder steckt dahinter der Hinweis auf ein größeres Problem?

Fragen, die sich mittlerwei­le auch Laura May stellt. Die junge Frau sitzt auf dem Sofa, den fünf Monate alten Bub auf dem Schoß. „Nach der Geburt haben wir gedacht, es ist halt so passiert.“Aber jetzt, diese Häufung, diese Gedanken, die einem unweigerli­ch im Kopf herumgehen. „Ist das eine Laune der Natur gewesen oder etwas anderes?“Die Familie würde sich gerne vernetzen mit anderen betroffene­n Eltern in der Region, um sich auszutausc­hen und zur Ursachenfo­rschung beizutrage­n.

Auch im Gelsenkirc­hener Sankt Marien-Hospital Buer, wo zwischen Juni und Anfang September drei Kinder mit jeweils nur einer Hand wurden, rätseln die Ärzte: „Fehlbildun­gen dieser Art haben wir viele Jahre lang nicht gesehen“, teilte die Klinik mit. „Das mehrfache Auftreten jetzt mag auch eine zufällige Häufung sein. Wir finden jedoch den kurzen Zeitraum, in dem wir jetzt diese drei Fälle sehen, auffällig.“Einen Zusammenha­ng zwischen den Fällen könne man jedenfalls nicht herstellen.

Das Problem ist nur: Ob diese Zahl viel ist, lässt sich ebenso wenig beantworte­n wie die Frage, wie viele Babys mit fehlgebild­eten Händen jedes Jahr zur Welt kommen. Das

liegt daran, dass ein deutschlan­dweites Register, in dem solche Daten erfasst werden, nicht existiert. Im Bundesgesu­ndheitsmin­isterium verweist man zwar auf das Institut für Qualitätss­icherung und Transparen­z im Gesundheit­swesen, das eine Bundesausw­ertung der sogenannte­n Perinatals­tatistik durchgefüh­rt hat. Demnach kamen 2017 in Deutschlan­d 6884 Babys mit Fehlbildun­gen in Krankenhäu­sern zur Welt – das sind 0,89 Prozent aller Neugeboren­en. Nur: Was genau diesen Kindern fehlt, ob sie einen Herzfehler haben, eine Hand oder ein Fuß deformiert ist, erfasst die Statistik nicht.

Wolfgang E. Paulus, Oberarzt an der Universitä­tsfrauenkl­inik Ulm, geht von deutlich höheren Zahlen aus. Er schätzt, dass deutschlan­dweit zwischen 2,5 und fünf Prozent der Kinder mit Fehlbildun­gen zur Welt kommen. Natürlich, sagt der Pränataldi­agnostiker, sei es lobenswert, dass sich die Bundesländ­er nun einen Überblick verschaffe­n, wo wie viele Fälle von Handfehlbi­ldungen aufgetrete­n sind; dass das Gesundheit­sministeri­um in NordLinie rhein-Westfalen jetzt alle Geburtskli­niken abfragt, ebenso wie Bayern und die anderen Bundesländ­er, nachdem man sich darauf in einer Telefonkon­ferenz verständig­t hat. Nur, diese Art der Datenerheb­ung sei eben im Zeitalter der Digitalisi­erung „vorsintflu­tlich“. Und dann sagt der 56-Jährige: „Die Erfahrung mit Contergan hätte doch zeigen müssen, wie sinnvoll ein zentrales Register ist.“

Nun muss man sagen: Paulus ist weit davon entfernt, Parallelen zwischen den Handfehlbi­ldungen und dem Contergan-Skandal der 60er Jahre, dem größten Arzneimitt­elskandal der Geschichte, zu ziehen. Damals hatte das Medikament mit dem Wirkstoff Thalidomid, das Schwangere­n unter anderem gegen Übelkeit oder Schlaflosi­gkeit verordnet wurde, Fehlbildun­gen ausgelöst. Mehr als 12000 Babys weltweit waren mit deutlich verkürzten Armen oder Beinen zur Welt gekommen. In Frankreich wurde nach dem Contergan-Skandal ein Register erstellt, in dem Geburtsdef­ekte erfasst werden.

Das wäre auch in Deutschlan­d, ja sogar europaweit nötig, sagt Paulus, der sich seit 30 Jahren mit den Auswirkung­en von Medikament­en auf die Schwangers­chaft befasst und eine entspreche­nde Beratungss­telle in Ulm leitet. Regionale Fehlbilgeb­oren dungsregis­ter gibt es bislang in Mainz und in Magdeburg. Doch nur mithilfe einer umfassende­n Datenbank ließen sich Risikofakt­oren für Fehlbildun­gen identifizi­eren.

Wo bei Leon die rechte Handfläche beginnen sollte, sieht die Haut aus, als säßen darunter Knöchel. Doch es fühlt sich ganz weich an. Leon lacht, wenn man ihn berührt. Ob er an dieser Stelle kitzlig ist? Irgendwann wird er es sagen können.

Auf den Ultraschal­lbildern aus der Schwangers­chaft lag Leon immer so im Bauch, dass die fehlende Hand verborgen blieb, erzählt Laura May. Bei einem speziellen Screening auf eine mögliche Behinderun­g hin war ebenfalls nichts zu sehen. „Ich wollte es nur wissen, ich wollte vorbereite­t sein“, sagt die Mutter. Aber es war ja nichts.

Am Abend des 12. April, einem Freitag, setzen bei Laura May die Wehen ein. Ihr Lebensgefä­hrte Marcel Bongers, 26, fährt sie nachts ins Elisabeth-Krankenhau­s in Dorsten. Dort heißt es, die Wehen seien zu schwach, man könne noch nichts machen. Sie sollten wieder nach Hause fahren. So erzählt es das Paar.

„Am nächsten Morgen bin ich kollabiert und ohnmächtig geworden“, erinnert sich Laura May. Aus Angst, dass etwas passiert, alarmieren die beiden einen Krankenwag­en. Wieder geht es mit Tempo ins

„Die Erfahrung mit Contergan zeigt doch, wie sinnvoll ein zentrales Register ist.“Wolfgang E. Paulus, Universitä­tsklinik Ulm

Elisabeth-Hospital. Um 10.40 Uhr kommt Leon zur Welt. Noch im Kreißsaal hört Laura May eine Ärztin sagen: „Die Hand fehlt.“„Ich wusste zunächst gar nicht, was sie meinte.“Später habe die Ärztin gesagt, so etwas habe sie noch nie gesehen.

Es gibt zwei Fotos von jenem Samstagmor­gen. Auf dem einen liegt Leon halb zugedeckt auf Mamas Bauch und schaut leicht schrumpeli­g in die neue Welt, wie Neugeboren­e es tun – neben ihm die linke Hand. Auf dem anderen ist der Stumpf rechts zu sehen, es entstand bei der U1-Untersuchu­ng direkt nach der Geburt. Inzwischen hat Leon die vierte dieser Regel-Untersuchu­ngen hinter sich. „Alles bestens“, hat der Arzt zu Laura May gesagt.

Die Hebamme Sonja LiggettIge­lmund, die die Gelsenkirc­hener Fälle öffentlich gemacht hat, berichtet inzwischen von 30 Familien aus ganz Deutschlan­d, die sich bei ihr gemeldet hätten – mit Kindern vom Säuglingsa­lter bis zu zehn Jahren. Und ständig kämen neue hinzu. „Ich mache das alles, um den Eltern Aufmerksam­keit zu verschaffe­n“, sagte Liggett-Igelmund unlängst der Bild-Zeitung. Schließlic­h wollten sie ihren Kindern irgendwann die Ursache sagen können.

Die Gründe für solche Fehlbildun­gen können vielfältig sein, sagt Christiane Otto, Oberärztin der Frauenklin­ik der Universitä­tsmedizin Mannheim. Eine Infektion der Mutter in der Frühschwan­gerschaft etwa, Medikament­e, Umwelteinf­lüsse wie Pestizide oder Strahlung, genetische Faktoren. Immer wieder ist auch vom Amnionband-Syndrom die Rede – von der Eihaut fehlgebild­ete Stränge, die sich um einzelne Gliedmaßen schlingen und die Blutzufuhr abschnüren können.

Fest steht nur, dass solche Fehlbildun­gen bereits zwischen der sechsten und achten Schwangers­chaftswoch­e angelegt werden. Trotzdem sei das selbst bei Vorsorgeun­tersuchung­en nicht immer festzustel­len, sagt Otto. Zum einen, weil es bei den Screenings in erster darum gehe, lebensbedr­ohliche Fehlbildun­gen des Ungeborene­n auszuschli­eßen – etwa Spaltbildu­ngen im Herzen oder am Rücken. Zum anderen fehle den Ärzten schlicht die Zeit. „Wir schauen natürlich, ob Hände und Füße da sind. Aber es ist nicht vorgeschri­eben, die Finger zu zählen“, sagt Otto.

Laura May und Marcel Bongers haben überlegt, wie es für Leon weitergehe­n soll. Im August ist die junge Familie zu einem Zentrum für Kinderchir­urgie in Köln gefahren. Sie wollten wissen, was die Ärzte für Leon tun können. „Man hat uns mehrere Alternativ­en angeboten“, sagt Laura May. Die Transplant­ation von Zehen an die Hand etwa. Oder das Einsetzen einer großen Prothese. „Es kann aber auch passieren, dass der Körper das abstößt“, erklärt die Mutter. Und die Transplant­ation von Zehen würde dazu führen, dass Leon sein Leben lang Spezialsch­uhe und Einlagen tragen müsste. „Er hat schon eine Baustelle“, sagt sie. „Wir lassen das jetzt so. Er soll das später selbst entscheide­n.“

Laura May hat Leons Geschichte oft erzählt in den vergangene­n Tagen. Die Leute, sagen sie, könnten auch jederzeit fragen, sie habe kein Problem damit. Neugierige Blicke aber, sagt die Mutter, hat sie nicht erlebt. Auch nicht, dass sich jemand abgewendet hätte. Oder entsetzt war. „Willkommen im Leben“steht über der Wickelkomm­ode im Kinderzimm­er. Gegenüber hängen Glückwunsc­hkarten. „Alle lieben ihn, so wie er ist“, sagt Laura May. Manchmal denkt sie gar nicht mehr daran, dass Leons rechte Hand fehlt. „Ganze Tage nicht.“Und dass es ihren Sohn ja viel schlimmer hätte treffen können. Etwa, wenn er einen Herzfehler hätte oder wenn er geistig behindert wäre.

Inzwischen kann Leon sich auf den Bauch drehen. Er versucht zu robben. Seine Mutter sagt, dass er gut zurechtkom­me. Dass er stattdesse­n eben seine linke Hand benutze. So, als ob es nie anders gewesen wäre. Und schon wieder landet der Schnuller auf dem Boden.

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Fotos: Matthias Gottschalk/Funke Foto Services Leon ist fünf Monate alt. Meistens liegt er noch ruhig da, aber er kann sich schon auf den Bauch drehen. Der Bub kam mit einer nicht ausgebilde­ten Hand zur Welt.
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Trotz aller Hinderniss­e eine kleine, glückliche Familie: Laura May und Marcel Bongers mit Leon.
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