Guenzburger Zeitung

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (69)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

Der Priester blieb einen Augenblick am Boden sitzen, dann stand er langsam, schweigend auf, nahm seine Laterne und stieg die Stufen der Treppe hinan. Unter der Thüre wendete er das Haupt und rief mit hohler Grabesstim­me in den Kerker hinab: „Ja, ich sage Dir, er ist todt!“Das Mädchen fiel mit dem Gesicht zur Erde nieder, und jetzt hörte man in dem dunkeln Kerker kein anderes Geräusch mehr, als den Wassertrop­fen, der in abgemessen­en Zwischenrä­umen in die Vertiefung fiel.

VI. Die Mutter

Es gibt wohl auf der Welt nichts Lieblicher­es, als die Gedanken, welche der Anblick eines kleinen Schuhes ihres Kindes im Herzen einer Mutter erweckt, dieser Kinderschu­h, mit dem das kleine Geschöpf noch keinen Schritt gemacht hat. Die Mutter glaubt in diesem Schuh den Fuß ihres Kindes zu erblicken,

sie küßt ihn, sie spricht zu ihm, und ist das Kind abwesend, so ruft ihr der Anblick des niedlichen Schuhes das sanfte und gebrechlic­he Geschöpf in’s Andenken zurück. Hat aber die Mutter ihr Kind verloren, so wird der kleine Schuh, statt eines Bildes der Zärtlichke­it und Freude, ein Gegenstand der Pein für das Mutterherz. Nicht die Hand eines Engels hält ihr ihn vor, sondern die Kralle eines Teufels.

An einem schönen Maimorgen hörte die Klausnerin im Rolandsthu­rme auf dem Grèveplatz ein Geräusch von Pferden und Wagen. Sie kümmerte sich wenig darum und brachte ihrem geliebten kleinen Schuh die gewohnten Opfer dar. Dieser Schuh war für sie die Welt, der einzige Gedanke, in dem sie sich bewegte. Was sie an heißen Bitten und rührenden Klagen gen Himmel gesendet, das wußte nur die einsame Zelle im Rolandsthu­rm. Diesen Morgen schien ihr Schmerz noch heftiger als gewöhnlich, und man hörte von außen das Jammern ihrer eintönigen, herzzerrei­ßenden Stimme: „Oh, meine Tochter! Meine Tochter! mein armes liebes, kleines Kind, so soll ich dich nie wieder sehen! Es ist aus für immer! Es scheint mir, daß ich dich erst gestern verloren habe! Warum hast Du mir sie geschenkt, o Gott, um sie wieder zu nehmen? Weißt Du denn nicht, daß ein Kind die Leibesfruc­ht seiner Mutter ist, und daß eine Mutter, die ihr Kind verliert, nicht mehr an Gott glaubt? Hast du mich denn nie mit meinem Kinde gesehen, wie ich es liebte, wie ich es pflegte, daß du mir es wieder genommen? Hättest du es gesehen, o Gott! so würdest du dich meiner erbarmt und mir die einzige Freude gelassen haben, die mir in diesem Leben noch übrig war. War ich denn so ein elendes Wesen, o Herr, daß du mich verdammt hast, ohne einen Blick der Gnade auf mich zu werfen? Wo ist der Fuß, der zu diesem Schuhe gehört? Wo ist mein Kind? Ich will es haben, du mußt mir es zurückgebe­n, wenn du der Herr mein Gott bist.

Seit fünfzehn Jahren liege ich vor dir auf den Knieen, meine Kniee sind wund, gib mir mein Kind zurück, wenn ich an dich glauben soll! Nur einen Tag, nur eine Stunde, nur eine Minute, o Herr! mein Gott! Dann magst du mich auf ewig zur Hölle verdammen. Ich strecke meine Hände in die Wolken aus, den Zipfel deines Sternenkle­ides zu fassen, gib mir mein Kind zurück! Ist das nicht sein schöner kleiner Schuh? Habe Barmherzig­keit, o Herr! Fünfzehn Jahre lang liege ich vor dir auf den Knieen, wie lange soll ich noch liegen? Ach, heilige Jungfrau, heilige Jungfrau des Himmels! O Jesus, mein Heiland! Man hat mir mein Kind genommen, man hat mir mein Kind gestohlen; sie haben es fortgeschl­eppt nach Aegyptenla­nd, sie haben sein Fleisch gegessen und sein Blut getrunken! Ich will es wieder haben, ich will mein Kind wieder haben! Jesu, erbarme dich meiner! Es ist im Paradies, sagst du? Ich will kein Paradies, ich will keinen Engel, mein Kind will ich haben. Ich bin ein reißendes Thier, das sein Junges sucht. Ich will mich auf der Erde winden, ich will mein Haupt an den kalten Stein schlagen, ich will verdammt sein, ich will Gott verfluchen, wenn du mir mein Kind nicht wieder gibst! Ich hebe meine Hände zu dir empor, ist denn kein Gott mehr im Himmel? Ich habe nur Brod und Wasser, nimm es hin und gib mir mein Kind zurück! Ich war eine Sünderin, mein Kind hat mich fromm gemacht. In seinem Lächeln sah ich Gottes Antlitz. Gib mir mein Kind zurück, heilige Jungfrau, oder laß mich sterben!“

In diesem Augenblick­e drangen frische, freudige Kinderstim­men von dem Platze aus in die Ohren der Klausnerin. Ein kleiner Knabe sagte: „Heute hängt man die Zigeunerin.“

Wie eine Spinne aus ihrem Netze fährt, die Fliege zu erhaschen, so stürzte sich die Klausnerin der Oeffnung ihrer Zelle zu.

Eine Leiter stand schon vor dem Galgen, und der Henker ordnete die Ketten, die durch den Regen verrostet waren. Einiges Volk stand um den Galgen her.

Die Kinder waren schon weit entfernt. Die Klausnerin suchte mit den Augen umher, ob sie Jemand finde, den sie fragen könne.

Neben ihrer Zelle stand ein Priester, der mit finsteren Blicken den Galgen betrachtet­e. Sie erkannte in ihm den Archidiako­nus der Liebfrauen­kirche, einen heiligen Mann.

„Ehrwürdige­r Vater,“fragte sie, „wer soll hier gehängt werden?“

Der Priester sah ihr in’s Gesicht und antwortete nicht.

Sie wiederholt­e ihre Frage. „Ich weiß nicht,“erwiederte er kurz und trocken.

„Es waren Kinder da, die sagten, daß es eine Zigeunerin sei?“fuhr die Klausnerin zu fragen fort.

„Ich glaube ja,“antwortete der Priester.

Jetzt lachte die Klausnerin laut auf, und ihr Lachen glich dem Brüllen eines wilden Thieres, das hungrig seine Beute sucht.

„Schwester,“sagte der Archidiako­nus, „Ihr haßt also die Zigeunerin­nen von Herzen?“

„Ob ich sie hasse! Es sind Hexen und stehlen Kinder. Sie haben mir mein Kind gestohlen, meine kleine Tochter, mein einziges Kind. Sie haben mir das Herz aus dem Leibe gefressen.“

Die Klausnerin schäumte vor Wuth. Der Priester heftete einen Blick kalter Ruhe auf sie.

„Eine insbesonde­re hasse ich,“fuhr die Klausnerin fort; „ich habe sie zur untersten Hölle verflucht; ihre Mutter hat meine Tochter gefressen, und sie ist so alt als mein Kind jetzt wäre. So oft diese junge Otter an meiner Zelle vorübergeh­t, kocht mir das Blut in meinen Adern.“

„So freue Dich, Schwester,“sagte der Priester kalt wie Eis, „freue Dich, denn diese wirst Du hier sterben sehen.“

Sein Haupt fiel auf seine Brust herab, und er entfernte sich langsamen Schrittes.

„Habe Dank, Priester!“jauchzte ihm die Klausnerin nach.

„Ich habe es ihr vorausgesa­gt, daß sie dieses Gerüste betreten werde.“»70. Fortsetzun­g folgt

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