Guenzburger Zeitung

Die Kanzlerin des Übergangs

Porträt Brigitte Bierlein hat Österreich seit Anfang Juni zurückhalt­end und zuverlässi­g regiert. Wie lange sie noch im Amt bleibt, hängt nicht zuletzt vom Wahlergebn­is ab

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Brigitte Bierlein ist eine besondere Bundeskanz­lerin. Infolge des Ibiza-Skandals und des Misstrauen­svotums gegen Sebastian Kurz berief Bundespräs­ident Alexander van der Bellen die frühere Präsidenti­n des Verfassung­sgerichtsh­ofes zur Chefin der Übergangsr­egierung. Gewählt wurde sie nicht. Formal parteilos, steht sie der konservati­ven ÖVP und der rechtspopu­listischen FPÖ nah. Doch die letzte Woche des Wahlkampfs verbringt die Regierungs­chefin nicht in Österreich, sondern in New York bei den Vereinten Nationen.

Bundeskanz­lerin wurde Brigitte Bierlein am 3. Juni, drei Wochen später feierte sie ihren 70. Geburtstag. Bei ihrer Antrittsre­de vor dem Parlament zitierte sie Cicero: „Denn nichts hält das Gemeinwese­n wirkungsvo­ller zusammen als die Verlässlic­hkeit.“Dass sie zuverlässi­g ist, nehmen ihr die Österreich­er ab. Bereits im Juni erreichte sie in einer Umfrage 40 Punkte im sogenannte­n Vertrauens­index, einen Punkt mehr als der Präsident und 13 Punkte mehr als der durch den Skandal um das Ibiza-Video mit seinem Vizekanzle­r Karl-Heinz Strache in Bedrängnis geratene Kurz.

Ihrem Expertenka­binett hat Bierlein, die seit Jahrzehnte­n mit einem pensionier­ten Richter zusammenle­bt, klare Grenzen gesetzt. Die zur Hälfte mit Frauen besetzte Regierung sollte zwar auf große Würfe und langfristi­ge politische Weichenste­llungen verzichten.

Doch innerhalb der Ministerie­n und des Kanzleramt­s machen die Neuen kostspieli­ge Fehlentwic­klungen rückgängig und setzen durchaus auch eigene Akzente. Bierleins Forderung nach Zurückhalt­ung und Bescheiden­heit im Außenauftr­itt ihrer Regierung und die Ankündigun­g, sie werde auf große Inszenieru­ngen verzichten und sich auf fachliche Interviews beschränke­n, rief Erstaunen und Kritik hervor.

Doch ihre unermüdlic­he Präsenz, ob im FestspielS­ommer oder bei Treffen mit sozialen Organisati­onen, lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie ihrem Amt gerecht wird. Eine besondere Herausford­erung war für sie die Suche nach einem österreich­ischen EU-Kommissar. Dafür benötigte sie die Zustimmung der Mehrheit des Parlaments. Sie löste das Problem, indem sie den bewährten amtierende­n Kommissar Johannes Hahn von der ÖVP erneut benannte. Mit ihrer offenen Art überzeugte sie auch Sozialdemo­kraten, Grüne und Liberale von ihm.

Ihre Teilnahme an der Vollversam­mlung der Vereinten Nationen werde „das erste und letzte Mal sein“, hat sie bei ihrer Ankunft in New York gesagt. Die Antwort des Präsidente­n sei gewesen: „Wer weiß?“Tatsächlic­h steht Österreich vor einer schwierige­n Regierungs­bildung. Die Weihnachts­ansprache könnte in diesem Jahr durchaus noch Brigitte Bierlein halten.

Mariele Schulze Berndt

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Foto: dpa

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