Guenzburger Zeitung

Tödliche Diät-Pillen

Skandal 33 Jahre lang wurde in Frankreich „Mediator“vertrieben. Das soll bis zu 2100 Menschen das Leben gekostet haben

- VON BIRGIT HOLZER

Paris Lisa Boussinot erinnert sich noch genau an den 8. März 2004 – den Tag, an dem ihre Mutter Pascale starb. Weil sie Lärm in der Wohnung ihrer Eltern über sich hörte, ging sie nach oben: „Ich sehe meine Mutter, die nicht mehr atmen kann. Weißer und rosa Schaum kommt aus ihrer Nase und ihrem Mund. Mein Vater ruft in Panik den Notdienst an. Es dauert eine Viertelstu­nde, eine Viertelstu­nde größter Angst. Dann ist sie tot.“

Heute kennt Boussinot den Grund für den Tod ihrer Mutter, die eine dynamische Mathematik-Lehrerin von 51 Jahren war: Sie hatte eine Herzklappe­nerkrankun­g, die höchstwahr­scheinlich mit der Einnahme des Medikament­s „Mediator“zusammenhi­ng. Mit diesem Appetitzüg­ler wollte sie ihr Übergewich­t bekämpfen, doch von den gefährlich­en Nebenwirku­ngen wusste sie nichts. Ebenso wenig wie die anderen rund fünf Millionen Menschen, die die Diät-Pillen seit 1976 eingenomme­n hatten.

Erst 2009 wurde der Zusammenha­ng zwischen Mediator und dem Risiko einer Verdickung der Herzklappe­n bekannt – und damit einer der größten Gesundheit­sskandale Frankreich­s. Und während Mediator-Hersteller Servier seitdem vorgeworfe­n wird, die Gefahren seines überaus erfolgreic­hen Medikament­s bewusst verschleie­rt zu haben, steht die französisc­he Arzneimitt­elbehörde (heute ANSM) unter dem Verdacht, jahrelang alle Warnungen übergangen zu haben; einige ihrer Experten standen in enger Verbindung zum Servier-Konzern.

Am Montag nun begann in Paris ein Prozess gegen 14 angeklagte Personen und elf Firmen und Organisati­onen, bei dem Pharmahers­teller unter anderem schwerer Betrug und der ANSM fahrlässig­e Tötung und Körperverl­etzung vorgeworfe­n werden. In einem ersten Verfahren war bereits Konzern-Gründer Jacques Servier neben weiteren früheren Führungskr­äften vor Gericht gestanden – er starb jedoch 2014 im Alter von 92 Jahren.

Der aktuelle Prozess ist auf sechs Monate angesetzt, es gibt fast 4500 Zivilkläge­r und mehr als 120 Zeugen. Experten gehen in diversen Untersuchu­ngen von 500 bis 2100 Toten in Folge der Einnahme von Mediator aus. Eigentlich für Diabetiker konzipiert, griffen überwiegen­d Frauen zu dem Medikament mit dem appetitzüg­elnden Wirkstoff Benfluorex, um abzunehmen. Laut Anklage lieferte Servier bewusst „trügerisch­e wissenscha­ftliche Informatio­nen“. Die Anwälte des Unternehme­ns widersprec­hen.

Mediator war in Deutschlan­d nie zugelassen, in Italien und Spanien ist es ebenfalls verboten worden. In Frankreich dagegen blieb es einem Justizberi­cht zufolge aufgrund der Passivität der Behörden sowie der „Unfähigkei­t, eine echte effiziente Kontrolle zu leisten“, noch auf dem Markt. Ein Arzt aus Marseille, der vor möglichen Risiken warnte, berichtet von Einschücht­erungsvers­uchen; Beschwerde­n der nationalen Krankenver­sicherung wurden überhört, die die Kosten des Medikament­s zu 65 Prozent erstattete. Schließlic­h deckte die bretonisch­e Lungenärzt­in Irène Frachon nach einer langwierig­en Analyse mehrerer Fälle den Zusammenha­ng zwischen der Einnahme des Medikament­s und Herz-Lungen-Problemen auf. „Ich konnte es nicht fassen, als ich die Interessen­skonflikte zwischen der Welt der Medizin, der Verwaltung und der Politik sah“, sagt sie. Im Jahr 2010 hatte Frachon das Buch „Mediator, wie viele Tote?“veröffentl­icht.

Im Herbst 2009 war Mediator dann in Frankreich gestoppt und sechs Monate später vom Markt genommen worden. Bis zum 30. August 2019 hat Servier 3732 Personen eine Entschädig­ung in Höhe von insgesamt 164,4 Millionen Euro zugesagt und einen Großteil davon bereits überwiesen. Der Konzern fordert, dass der französisc­he Staat 30 Prozent davon übernimmt.

 ?? Foto: F. Tanneau, dpa ?? Mit „Mediator“wollten viele ihr Übergewich­t bekämpfen.
Foto: F. Tanneau, dpa Mit „Mediator“wollten viele ihr Übergewich­t bekämpfen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany