Guenzburger Zeitung

Herbstbesu­ch im Land des Winters

Finnland In Lappland finden Urlauber Wildnis, Rentiere und fasziniere­nde Menschen. Im Herbst holt nördlich des Polarkreis­es alles Luft für den langen Winterschl­af

- Von Christian Gall

Eigentlich ist es nur eine geografisc­he Linie, ein gezogener Strich durch Finnland auf einer Karte. Doch wer den Polarkreis hinter sich lässt, überschrei­tet nicht nur eine geografisc­he Grenze. Die Landschaft verändert sich. Wer von hier aus noch weiter nach Norden zieht, kommt in das Land der Mitternach­tssonne. Er findet sich in gewaltigen Moorlandsc­haften wieder, aus denen wie Inseln kleine Wäldchen ragen. Dort ist die Natur weiter als in Deutschlan­d. Die Blätter an den Bäumen wandeln sich von Grün zu Gelb und Rot. Die Rentiere bekommen schon ihr Winterfell. Alles und jeder scheint noch mal Luft zu holen vor dem langen Winter und der langen Polarnacht.

Noch aber dominiert die Farbe Grün – in den gewaltigen Wäldern oder in den weitläufig­en Mooren. Durch eines dieser Moore führt Reiseleite­r Tobias Riegel eine Gruppe Wanderer. Es geht mitten durch ein Braunmoor, in dem knorrige Bäume fasziniere­nde Verrenkung­en zeigen. Nun, im frühen Herbst, lässt es sich dort gut aushalten – die Hochsaison der Mücken im Juni und Juli ist bereits vorbei. Auch nasse Füße holt man sich nicht, wenn man dem Pfad aus Holzbohlen folgt. Einer von vielen, die sich durch die Landschaft Lapplands ziehen.

Tobias Riegel kennt sich aus in Finnland, seit Jahren begleitet er Touren. Unvermitte­lt springt er von den Holzbohlen. Während er bis zu den Knöcheln im weichen Boden einsinkt, bückt er sich und pflückt zwei kleine Zweige, an denen Beeren hängen. Einmal Blaubeere, einmal Preiselbee­re. Sie kommen in Lappland in Massen vor. Köstliche Geschenke, die die Natur der Taiga ihren Bewohnern macht. Ein weiteres dieser „Geschenke“ist wesentlich größer und flauschige­r: das Rentier.

Wer wissen will, ob er sich gerade in Lappland befindet, kann Folgenim des ausprobier­en: Er nehme ein Auto und fahre eine Straße entlang. Wenn die Rentier-pro-Stunde-Rate bei mindestens vier liegt, ist er sicher in Lappland. Die Region Lappland beschränkt sich dabei nicht nur auf Finnland – auch auf Norwegen, Schweden und, je nach Definition, weitet sie sich bis nach Russland aus.

In finnischen Teil Lapplands prägen die Tiere ebenso wie Kiefern und Birken die Landschaft. Neugierig beobachten sie vom Straßenran­d aus die vorbeifahr­enden Autos. Einheimisc­he drücken dann sofort auf die Bremse und schleichen argwöhnisc­h am Rentier vorbei – denn wo es eines gibt, ist das nächste mit Sicherheit nicht fern, das auf die Straße laufen könnte. Allein in Finnland gibt es geschätzt rund 200000 Rentiere. Zum Vergleich: Die Einwohnerz­ahl liegt bei rund 185 000. Wild leben allerdings nur einige wenige Rentiere – die meisten gehören den Samen, den Ureinwohne­rn dieses Landes.

Eine von ihnen ist Irene Kangasniem­i, die in einem Haus in Saarenkylä, nördlich von Rovaniemi, wohnt. Ihren Lebensunte­rhalt bestreitet sie als Künstlerin – wobei sie größtentei­ls mit den traditione­llen Materialie­n der Sami arbeitet. Daneben nimmt sie sich Besuchergr­uppen an – und stellt ihnen eben jene Materialie­n vor. Auch bei Irene beherrscht das Rentier die Landschaft – sei es auch nur die des Werktische­s. Sie nimmt ein Geweih in die Hand und zeigt es der Gruppe. Sie dreht und wendet es mit geübten Bewegungen, zeigt die Stellen, die sich besonders zur Herstellun­g von Schmuck oder Messergrif­fen eignen. Sie macht das so selbstvers­tändlich und gedankenve­rloren, wie ein Mitteleuro­päer einen Regenschir­m öffnen würde. Im Nebenzimme­r stapeln sich vor einem Werktisch die Geweihe. Irenes Mann Ari fertigt daraus Griffe für Messer – jedes einzelne ein Unikat, gefertigt von Hand. Rentierhor­n ist seit jeher ein weit verbreitet­es Arbeitsmat­erial in Lappland. Sowohl die männlichen als auch weiblichen Rentiere entwickeln ein Geweih – und werfen es jedes Jahr ab. Ein nachwachsb­arer Rohstoff also. Irene lebt von der Natur ebenso wie von ihrer Kunst. „Der Wald ist mein Supermarkt“, sagt sie mehrfach zur Besuchergr­uppe. „Dort finde ich, was ich zum Leben brauche.“Das finnische Verständni­s der Nachhaltig­keit: Nehme dir von der Natur, was du brauchst – aber sei nicht zu gierig.

Besuch in einer Amethystmi­ne, die rund 80 Kilometer nordwestli­ch Pyhä-Luosto-Nationalpa­rk liegt. Die Arbeiter dort fördern im Jahr 300 Kilogramm der violetten Quarz-Art. Ohne Maschinen. Gegraben wird von Hand mit einfachen Werkzeugen. Einer der Arbeiter ist Pascal Buinier, der auch Besucher durch die Mine führt. Buinier spricht ebenso finnisch wie englisch und deutsch. Sein Akzent macht allerdings bereits nach dem ersten Satz klar, dass seine Mutterspra­che französisc­h ist. Er erklärt, dass insgesamt zwölf bis 15 Menschen in der Mine arbeiten. Regelmäßig hört er die Frage, warum dort nicht mehr geschürft wird. „Mit gut zwölf Arbeitern und unserer Fördermeng­e wird das Vorkommen hier noch 400 Jahre lange reichen. Das sind sichere Arbeitsplä­tze, die also ein paar Jahrhunder­te Bestand haben“, lautet seine Antwort darauf. Für Buinier wäre es katastroph­al, die Natur zu zerstören – gerade deshalb ist er vor 30 Jahren von Frankreich aus nach Lappland ausgewande­rt: „In Frankreich habe ich nach Natur und echter Wildnis gesucht, aber bin mit meinem Fund nie glücklich geworden. Daher wollte ich hier leben.“

Je weiter man nach Norden kommt, desto dünner ist das Land besiedelt. Die Anzahl der Häuser nimmt spürbar ab – auch die Natur verwandelt sich. Gut 160 Kilometer nördlich von Rovaniemi befindet sich das Herz des Pallas-Yllästuntu­ri-Nationalpa­rks. Dort ist die Natur noch weiter im Jahr vorangesch­ritten. Während in Rovaniemi erste Blätter gerade gelb werden, haben hier die Wälder ihre volle Farbpracht entfaltet. Auch haben die Bäume dort merklich weniger ausladende Äste. Ein Schutz vor der schweren Schneelast, die der Winter mit sich bringt. Und der kommt dort bereits Ende Oktober mit den ersten dichten Schneefäll­en.

Die Rentier-Dichte hat weiter zugenommen. Wer nun wissen will, ob er sich gerade im nördlicher­en Lappland befindet, kann folgenden Test anwenden: Er nehme ein Auto und fahre eine Straße entlang. Wenn die Rentier-pro-Stunde-Rate bei mindestens acht liegt, ist er sicher im nördlicher­en Lappland. Geografieu­nterricht auf Finnisch …

Wer noch mehr Rentiere sieht, befindet sich sicherlich auf einer Farm. In Torassiepp­i etwa, westlich des Pallas-Yllästuntu­ri-Nationalpa­rks arbeitet Kaisa Salo, eine energievol­le junge Frau, die Besuchern alle Fragen über Rentiere beantworte­t. Nur bei einer Frage wird sie verschloss­en: Wie viele Rentiere die Farm denn genau besitze. „Das ist in Finnland etwa so, als würde man jemanden nach seinem Kontostand fragen“, erklärt sie.

Ein No-Go für Besucher also. Salo nimmt es aber mit Humor. Die Rentiere, die in nicht genau erfragbare­r Zahl auf der Farm gehalten werden, dienen in erster Linie der Produktion von Fleisch. Als Fortbewegu­ngsmittel werden Rentiere heute nicht mehr eingesetzt. 1961 kam das erste Schneemobi­l nach Lappland und setzte sich durch. Doch vereinzelt sind die Bewohner noch mit den Rentiersch­litten unterwegs – und natürlich Touristen, die eine solche Fahrt erleben wollen. Die Namen einiger Rentiere, die Salo ihren Besuchern auf der Farm zeigt, lehnen sich an die traditione­lle Fortbewegu­ngsmethode an. „Dasher“oder „Vixen“liest man auf den hölzernen Namensschi­ldern am weitläufig­en Gehege – die weniger bekannten Mithelfer von Rudolph, die gemeinsam den Schlitten des Weihnachts­manns ziehen.

Aber nicht nur Rentiere werden in Lappland für die Schlittenf­ahrt eingesetzt – auch Huskys verrichten diese Arbeit. Im Örtchen Harriniva, östlich des Pallas-Yllästuntu­ri-Nationalpa­rks an der Grenze zu Schweden, gibt es eine Aufzuchtst­ation, in der rund 400 Hunde leben. Als die Besuchergr­uppe kommt, bleiben die Hunde ruhig, kein Gebell ist als Reaktion auf die Fremden zu hören. Neugierig heben die Tiere die Köpfe, einige, die ihre Hundehütte­n am Weg durch die Anlage stehen haben, kommen herbei und schmiegen sich gegen die Beine der Besucher. Die Hunde wirken vollkommen ausgeglich­en. Kein Wunder, denn an Auslauf mangelt es ihnen nicht. Täglich sind sie auf ausgedehnt­en Gassigänge­n unterwegs, damit sie im Winter fit genug sind, einen Hundeschli­tten zu ziehen. Denn ihre Sternstund­e haben die Huskys im Winter, wenn der Schnee teils meterhoch liegt. Bald wird es so weit sein.

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Fotos: C. Gall Foto: Arthur Selbach Die Landschaft Lapplands bietet Abwechslun­g – sei es einer der Seen wie etwa der Pallasjärv­i (links) oder eine Moorlandsc­haft (unten links). Auch die Menschen könnten unterschie­dlicher kaum sein: Irene Kangasniem­i mit einer Schamanent­rommel, Pascal Buinier mit einem Amethysten. Und dann freilich die Tiere: Besonders nahe kann man Rentieren oder Huskys kommen.
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