Als Heine Deutschland die Leviten las
Vor 175 Jahren erschien „Deutschland. Ein Wintermärchen“. In dem epischen Gedicht ätzte der Autor gegen den Mief der Kleinstaaterei. Die Preußen setzten das Buch sofort auf den Index
Berlin „Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht.“Heinrich Heines berühmter Gedichtanfang gehört wohl zu den am häufigsten falsch zugeordneten Sätzen in der deutschen Literatur. Die beiden Verse eröffnen nämlich nicht – wie oft vermutet – das große Epos „Deutschland. Ein Wintermärchen“, sondern bilden den Auftakt zu dem schlanken Gedicht „Nachtgedanken“.
Nicht weniger düster allerdings beginnt das „Wintermärchen“: „Im traurigen Monat November war’s, die Tage wurden trüber, der Wind riss von den Bäumen das Laub, da reist’ ich nach Deutschland hinüber.“Der Winter 1843/44 steht bevor: Der 46-jährige Heine verlässt sein französisches Exil, in dem er seit mehr als zehn Jahren lebt, und macht sich nach Hamburg zu einem Besuch von Mutter und Verleger auf. Aus der Reise entsteht das Langgedicht mit seinen 27 Kapiteln und mehr als 500 Strophen zu je vier Versen – dazu ein Heimatbild zwischen emotionalem Sehnsuchtsort und piefigem Kleinstaaterei-Mief. Vor 175 Jahren, am 25. September 1844, erschien das „Wintermährchen“– seinerzeit noch mit „h“geschrieben – erstmals gedruckt als Abschluss und Höhepunkt der Sammlung „Neue Gedichte“im Verlag Hoffmann und Campe.
„Heine hat das Gedicht in einer Zeit geschrieben, als Deutschland von einer großen Restauration betroffen war, einer Erstarrung“, sagt die Direktorin des Heinrich-HeineInstituts in Düsseldorf, Sabine Brenner-Wilczek. Seinerzeit umfasst der Deutsche Bund mehrere Dutzend souveräne Staaten, in denen häufig Anläufe für demokratische Teilhabe nach Französischer Revolution und Vormärz zurückgewerden. Heines Blick auf Deutschland ist der eines Humanisten: Der Verfechter von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit malt das pessimistische Bild eines reaktionären Biedermeiers. Der Dichter sei „einer, der nicht vom Schmerz zerstört werden will“, schreibt auch Ex-Bundespräsident Joachim Gauck im Vorwort zur Jubiläumsausgabe, die im November bei Hoffmann und Campe erscheint. „Der Liebhaber der Freiheit“verschaffe sich mit Spott, Ironie und Angriffslust „Luft zum Atmen“.
Seine Reise-Etappen über Aachen und Köln nach Hamburg flankiert Heine mit Träumen, FantasieDialogen und symbolischen Szenen. In seinem hochästhetischen Text räumt er mit dem Erinnerungskult der Romantiker auf. Der mittelalterliche Barbarossa etwa, der senile Kaiser, „watschelte durch die Sääle“des legendären Kyffhäusers, um mit dem „Pfauenwedel“Staub von Harnischen und Pickelhauben zu wischen. „Heine bürstet auf eine sehr geschickte Art und Weise den Mythos gegen den Strich, der damals Barbarossa und der ganzen früheren Stärke viel zu viel Glanz und Gloria beimaß“, sagt Sabine BrennerWilczek. Als die Hamburger Stadtgöttin dem Ich-Erzähler im „Wintermärchen“einmal einen Blick in die Zukunft Deutschlands gewährt, eröffnen sich ihm entsetzliche Düfdrängt te. Es ist nämlich der stinkende Nachttopf. „Es war, als fegte man den Mist aus sechs und dreißig Gruben“– also deutschen Staaten.
Schon während der Reise schreibt Heine eine Urfassung, die er seiner Schwester Charlotte übergibt. „Heiße Ware damals“, sagt Heine-Expertin Brenner-Wilczek. Die Handschrift kommt später zerstückelt in Umlauf, noch heute entdeckt das Heine-Institut immer wieder neue Teile. Die Begeisterung für den Dichter ist seinerzeit immens. Brenner-Wilczek nennt die Erstausgabe einen „ganz mutigen Schreibakt“. Nach dem Erscheinen wird der Text in Preußen und den meisten Bundesstaaten sofort beschlagnahmt. Selbst Rezensionen des „Wintermärchens“sind verboten. Der Obrigkeit ist der politisch engagierte Satiriker wegen seiner revolutionären Ansichten schon seit Jahren ein Dorn im Auge. Er wird per Steckbrief gesucht.
Dennoch, sagt die Direktorin des Heine-Instituts, sollte der Autor nicht zu einem Dichter der Umwälzung verklärt werden. Er habe „zu allen Revolutionen und revolutionären Bewegungen und zu allen Parteien und Parteilichkeiten, trotzdem noch Kritisches erwähnt“. Keine Vision sei bei ihm ungebrochen, er bleibe ein kritischer Geist.
Hymnisch, polemisch, zotig, anklagend – Heines „Wintermärchen“zeigt mit großartigem Witz die deutschen Eigenheiten in ihrer ganzen Fülle, stellt sich aber gegen militanten Nationalismus und obrigkeitshörige Engstirnigkeit. Der Dichter finde in Deutschland, „was er liebt und was er hasst“, schreibt Gauck. Und schiebt hinterher: Auch heute lebten „wir nicht in einem immerwährenden Sommermärchen“.
Sebastian Fischer, dpa