Guenzburger Zeitung

Tony Blair über die Briten und den Brexit

Der ehemalige britische Premiermin­ister Tony Blair appelliert eindringli­ch an die Politik seines Landes, die Bevölkerun­g noch einmal über den Brexit abstimmen zu lassen. Aber auch an die EU hat er eine wichtige Botschaft

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Herr Blair, in Deutschlan­d verfolgen die Menschen das politische Spektakel im Königreich und fragen sich, ob die Briten völlig verrückt geworden sind. Hat Großbritan­nien den Verstand verloren?

Tony Blair: Unsere Politik ist gerade ein einziges Chaos, das kann man nicht leugnen. Die Konservati­ven haben sich zumindest vorläufig zu einer rechtsorie­ntierten nationalis­tischen Partei gewandelt. Die Labour-Partei steht weiter links als jemals zuvor in ihrer Geschichte. Mit dem EU-Referendum ist unsere Politik aus den Fugen geraten. Aber ich kann Ihnen versichern, wir werden uns über kurz oder lang erholen, ob der Brexit stattfinde­t oder nicht.

Diese Woche hat der Supreme Court die von Premiermin­ister Boris Johnson erzwungene Suspendier­ung des Parlaments für rechtswidr­ig erklärt. Wie ordnen Sie das Urteil ein?

Blair: Die Entscheidu­ng zeigt das Ausmaß der Krise, in der die Politik steckt. Als Regierung auf diese Weise überstimmt zu werden, ist beispiello­s und es begrenzt die Optionen für Boris Johnson noch weiter. Letztlich gibt es nur einen Weg, diese Angelegenh­eit abschließe­nd zu klären, und dieser ist, die Bevölkerun­g in einem erneuten Referendum abstimmen zu lassen. Anders als 2016 ist die Wahl nun klar: Brexit unter Johnsons Bedingunge­n oder der Verbleib.

Etliche Briten fühlen sich betrogen, weil ihre Anweisung an die Politik bislang nicht befolgt wurde. Die Mehrheit der Leave-Wähler wünscht laut Umfragen einen No-Deal-Brexit. Warum ist deren Forderung so inakzeptab­el, dass Sie sie auf dem Stimmzette­l ignorieren würden?

Blair: Weil es nicht vernünftig für das Land ist. Das ist der Moment, in dem Politiker führen müssen. Den Auftrag zu erteilen ist einfach. Ihn umzusetzen nicht. Nun wird zwar anerkannt, dass die Angelegenh­eit zurück zum Volk getragen werden muss, aber dies sollte durch den direkten Weg eines Referendum­s geschehen. Im Übrigen mag eine Wahl auch kein klares Ergebnis ergeben, es könnte dasselbe passieren wie 2017 und wir enden mit einer parlamenta­rischen Hängeparti­e.

Mit Verlaub, Ähnliches gilt für ein zweites Referendum. Was, wenn die Brexit-Befürworte­r wieder gewinnen? Blair: Meiner Meinung nach ist der Verbleib in der EU das bei weitem wahrschein­lichste Resultat. Die erkennen unter all den Wirren, dass der Brexit ein Fehler ist. Aber wie auch immer das Ergebnis ausfällt, es würde akzeptiert werden. Falls die Briten nach diesem ganzen Chaos noch immer für den Austritt stimmen, werden Leute wie ich sagen, okay, das war’s. Entscheide­n wir uns aber fürs Bleiben, dann verspreche ich Ihnen, dass die nächste Person, die das Wort Brexit nur in den Mund nimmt, aus der Stadt gejagt wird.

In großen Teilen Ihrer eigenen Labour-Partei werden Sie als Persona non grata betrachtet, insbesonde­re unter Anhängern des Vorsitzend­en Jeremy Corbyn. Fühlen Sie sich politisch verloren?

Blair: Natürlich. Die Labour-Partei hat meiner Ansicht nach eine fundamenta­l falsche Richtung eingeschla­gen. Sie wurde von der extremen Linken übernommen und diese Leute haben kein wirkliches Verständni­s, wie Politik funktionie­rt oder wie man eine Wahl gewinnt. Aber in den nächsten zwei, drei Jahren wird das eine oder andere passieren. Entweder die Labour-Partei kehrt zurück zu einer gemäßigter­en Position oder die britische Politik wird sich grundlegen­d neu formen. Wenn die zwei großen Parteien meinen, sie könnten sich weiterhin so verhalten, werden sie an einem bestimmten Punkt einen Schock erleben. Denn ich bin ganz sicher nicht die einzige Person, die sich im Moment politisch etwas heimatlos fühlt. In einer Demokratie füllt sich dieses Vakuum schlussend­lich.

Das Königreich galt stets als schwierige­s EU-Mitglied. Warum sollte die EU nach diesem Drama die Briten überhaupt noch halten wollen?

Blair: Europa wird ohne Großbritan­nien schwächer sein. Falls wir in der von Boris Johnson gewünschte­n Form eines verhandelt­en harten Brexits aus der EU scheiden, führt das zu einem Drittstaat­en-Abkommen wie mit Kanada. Das ist eine massive Umstellung für die britische Wirtschaft. Diese Veränderun­g wird auch Auswirkung­en auf Europa haben. Denn Großbritan­nien wird sich neu sortieren, es ist ein starkes Land. Wir werden uns zu einem äußerst attraktive­n Ort für Investoren entwickeln müssen und sicherstel­len müssen, dass wir den USA näherrücke­n und den europäisch­en Orbit eher verlassen. Die normale Dynamik eines harten Brexits wird zu einer Situation führen, in der wir mit Europa konkurrier­en. Das wäre ein Problem.

Welche Form von Unterstütz­ung wünschen Sie sich vom Kontinent?

Blair: Wir brauchen eine Sache von Europa: Geduld. Ich weiß, dass die sich dem Ende neigt, aber meine zentrale Botschaft lautet: Man kann nicht eine Entscheidu­ng von solcher Bedeutung auf der Basis von Ungeduld treffen. Auf dem Gefühl, dass man genervt ist und genug hat. Ich verstehe diese Psychologi­e. Wäre ich im Moment Teil einer europäisch­en Regierung, wäre ich zutiefst frustriert. Aber nur mit einer rationalen Sicht kann dieser Brexit-Albtraum beendet werden. Vielen Staats- und Regierungs­chefs bereitet der Gedanke Sorgen, dass das Königreich bei einer erneuten Abstimmung für den Verbleib votiert und die EU dann ein kontinuier­lich in der EuroMensch­en pafrage gespaltene­s Land in der Gemeinscha­ft mitträgt. Die Angst ist, dass dies das europäisch­e Projekt destabilis­iert.

Ist diese Sorge nicht berechtigt?

Blair: Der Brexit ist weder im langfristi­gen, historisch­en Interesse von Europa noch von Großbritan­nien. Wir befinden uns im Endspiel. Falls es eine Fristverlä­ngerung gibt, bin ich sicher, dass wir während dieser Zeit das Problem lösen werden, so oder so.

In welchem Maß haben Sie in Ihrer Amtszeit den Boden für den Brexit bereitet?

Blair: Europa war kein großes Thema. Sie können anführen, dass wir darauf verzichtet haben, für die neuen EU-Mitglieder eine Übergangsf­rist bei der Personenfr­eizügigkei­t zu verhängen. Aber die Leute vergessen, dass wir 2004 erstens die Arbeitskrä­fte brauchten und zweitens, dass die Personenfr­eizügigkei­t von dem Moment an erfolgte, als Polen und die anderen Staaten der EU beigetrete­n sind. Doch egal, in welchem europäisch­en Land man die EU auf eine Weise auf die Agenda setzt, wie wir das 2016 getan haben, wird man ein Problem bekommen. Die Brexit-Entscheidu­ng basiert auf dem Mythos, dass Europa unser Schicksal bestimmt, obwohl das in Wirklichke­it nicht stimmt.

Nun sind britische Premiermin­ister nicht gerade als glühende Europäer aufgefalle­n. Auch jetzt werben Sie zwar für den EU-Verbleib, aber fordern Reformen. Wäre es nicht an der Zeit, leidenscha­ftlich für Europa einzutrete­n? Blair: Die Art von Reformen, über die wir reden, sind Reformen mit einer breiten Unterstütz­ung in Europa. Die Personenfr­eizügigkei­t ist das richtige Prinzip, aber die EU hat selbst eingesehen, dass sie Änderungen vornehmen musste wie etwa bei der Entsenderi­chtlinie, die das Recht auf freie Wahl des Arbeitspla­tzes in der EU ausformuli­ert, weil diese Probleme bereiten kann. Es schadet nicht, wenn Europa sich anpasst. Außerdem sind es nicht nur die Briten, die in den letzten 30 Jahren Schwierigk­eiten hatten. Es besteht ein Spannungsv­erhältnis zwischen europäisch­er Integratio­n und dem Nationalst­aat. Diese Spannung gibt es in Frankreich, in Italien, überall in Europa.

Wie beurteilen Sie die ersten Wochen von Boris Johnson als Premier? Manche meinen, hinter seinen umstritten­en Aktionen stecke ein genialer Plan. Blair: Das Genie muss an mir vorbeigega­ngen sein. Er hat nicht wirklich eine Strategie, außer derjenigen, dass er sie täglich ändert. Johnson reitet auf dem Brexit-Tiger und dieser wird ihn hinführen, wohin auch immer der Tiger ihn bringt. Seiner Ansicht nach schadet es ihm, wenn er den Brexit nicht am 31. Oktober umsetzt, weil die Hardliner einen Austritt um jeden Preis als einzigen Ausweg sehen, die Sache hinter sich zu bringen. Aber er muss laut Gesetz eine Verschiebu­ng der Austrittsf­rist beantragen, das kann er nicht umgehen.

Johnson schließt das aus und fordert Neuwahlen.

Blair: Ja, aber er ist blockiert. Labour verweigert ihm Neuwahlen, meiner Meinung nach zu Recht. Es ist das einzig Schlaue, das die Labour-Führung getan hat. Boris Johnson steckt im Moment in der Zwickmühle, und wenn Labour smart ist, lassen sie ihn in der Falle.

Machen Sie sich Sorgen über den zunehmende­n Populismus?

Blair: Selbstvers­tändlich, überall in der westlichen Welt haben populistis­che Bewegungen die Politik verändert, aber die meisten dieser Populismus-Wellen sind an einen Kopf oder eine Regierung gebunden. Naturgemäß sind diese vergänglic­h, sie kommen und gehen. Das Problem mit Großbritan­nien ist, dass sich unsere populistis­che Welle auf ein politische­s Konzept richtet, nämlich Brexit. Nur ist das keine Politik für einen Wahlzyklus, sondern eine für Generation­en.

Interview: Katrin Pribyl

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 ?? Foto: Victoria Jones, dpa ?? Tony Blair ist Mitglied der Labour-Partei. Die Politik des heutigen Premiermin­isters Boris Johnson kritisiert er massiv. Der Brexit stürze das Land ins Chaos.
Foto: Victoria Jones, dpa Tony Blair ist Mitglied der Labour-Partei. Die Politik des heutigen Premiermin­isters Boris Johnson kritisiert er massiv. Der Brexit stürze das Land ins Chaos.

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